„Ich möchte als eine der unendlich vielen Varianten von Frausein akzeptiert werden“

Myshelle Baeriswyl erlebt als Transfrau auf Online­-Plattformen oft Anfeindungen von lesbischen Frauen. Ein Gespräch über das Verhältnis zwischen lesbischen Cis-Frauen[1] und lesbischen Trans*frauen, über Transphobie in der lesbischen Community und über die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit.

(Das folgende Gespräch führte Dominique Graf, es wurde zuerst von LOS-INFO (Zeitschrift der Lesbenorganisation Schweiz) veröffentlicht)

Wie äussert sich die Transphobie bei lesbischen Frauen?

Es ist mir wichtig, gleich zu Beginn festzuhalten: Es geht mir nicht um ein generelles Bashing der Lesbenszene. Ich will – aufgrund meiner Erlebnisse auf Plattformen wie her2her oder ganz besonders auf GayParship – auf Untiefen und blinde Flecken im Verhältnis zu Transfrauen aufmerksam machen. Sie äussern sich in Aussagen wie «Ihr seid doch alle krank» oder «Ich suche eine richtige Frau» oder «Mein Gott, du bist trans – bist du wenigstens operiert?» oder «Ich habe kein Coming­out gemacht, um wieder mit einem Mann etwas anzufangen».

Diese Reaktionen veranlassen mich, zu hinterfragen: Warum werden wir als Transfrauen auf unsere Körperlichkeit, unsere Vergangenheit reduziert und als nicht weiblich eingestuft? Und was können wir tun, um es zu verändern?

Lesbische Frauen erleben auch Diskriminierung. Dies könnte ja ihr Gespür für Diskriminierungen jeglicher Art stärker machen als Menschen, die Ausgrenzung nie selbst erfahren. Woher kommt Ihrer Meinung nach also die Transphobie bei frauenliebenden Frauen?

Ich stelle fest, dass ich Probleme mit zwei Bevölkerungs­gruppen habe: Es sind einerseits jüngere Männer zwischen 14 und 25 Jahren und andererseits lesbische Frauen. Also habe ich mir die Frage gestellt, was die beiden Gruppen ver­binden könnte. Vielleicht ist es die prekäre Männlichkeit bzw. die prekäre Weiblichkeit. Jüngere Männer sind noch auf der Suche nach ihrer Männlichkeit. Sie testen sie aus, etwa im Ausgang als Gruppe, wenn sie Frauen anmachen. Trans­frauen sind noch aggressiveren Anpöbelungen ausgesetzt, als es Cis-Frauen eh schon sind.

Bei Lesben steht ihre Weiblichkeit unter Druck, weil die Gesellschaft sie in Frage stellt. Sie müssen sich ständig behaupten, werden diskriminiert. Und zusätzlich gibt es ja auch innerhalb der Community Diskussionen darüber, was richtig weiblich oder richtig lesbisch ist. Diese Situation führt zu Verunsicherung und biologistischen Positionen. Da sind Transfrauen eine weitere Herausforderung. Sie lösen das Gefühl aus: Es ist schon schwierig genug ohne euch, bleibt also draussen.

Wie kann diese Ablehnung aufgelöst werden?

Das Kernproblem ist die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit: Es gibt nur Frau und Mann. Ich rede in meinen Vorträgen nicht in erster Linie über Trans*, sondern vor allem über Heteronor­mativität und Gender-­Binarität und darüber, wie dominant sie in unserer Kultur sind. Welche Gruppen werden durch Heteronormativität ausgeschlossen, ja sogar pathologisiert? Wir wachsen alle ab dem Babyalter in der Zuteilung zu Frau und Mann auf. Wir stecken alle in dieser zweigeschlecht­lichen Sozialisation. Dabei ist es kaum möglich zu definie­ren, was eine Frau oder einen Mann ausmacht, wenn man nicht die Genitalien als Referenz heranzieht. Wäre die Ein­teilung nicht so kategorisch, könnte sich die Vielfalt an Geschlechtern entfalten. Das kommt schön zum Ausdruck in meinem Lieblingszitat: Geschlecht ist ein Universum vol­ler Sterne, und wir alle suchen nach unserer Konstellation. Jeder Mensch hat einen eigenen unverwechselbaren Genderprint.

Wir muüssen über Rollenbilder, über Frauen-­ und Männerbil­der nachdenken. Die Auswirkungen patriarchalen Denkens – es reduziert Frauen auf ihren Körper, es definiert die «rich­tige» weibliche Kleidung oder das «richtige» weibliche Ver­halten – spüren alle Frauen. Wir sollten diese Muster nicht übernehmen. Wir sollten selbstbewusst sein und so leben, wie wir sind oder sein wollen.

Genau darum geht es ja auch den lesbischen Frauen, oder?

Ja, das ist auch ihr Anspruch. Darum verletzt es mich so stark, wenn ich von lesbischen Frauen derart geballte Ablehnung erfahre. Wenn wir uns untereinander auch noch spalten – in richtiges und falsches Frausein, in richtiges oder falsches Lesbischsein –, dann haben wir ein grosses Problem: Wir machen uns dadurch weniger stark, als wir es eigentlich sind.

Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht offen und ohne Scheuklappen über unsere Frauenbilder diskutieren sollen. Aber diese Diskussion soll nicht im patriarchalischen Schab­lonendenken stattfinden. Wir müssen den Finger auf die blinden Flecken legen, über Stereotype nachdenken und sie hinterfragen – das Geschlecht sitzt nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren.

Ich richte diesen Appell auch an die Transszene, denn auch dort gibt es eine stark verinnerlichte Transphobie, hetero­normative Muster und binäres Denken. Es fehlt vielen Trans­menschen auch oft an feministischem Bewusstsein. Wir transzendieren Zweigeschlechtlichkeit nicht, sondern zementieren sie. Das bringt uns als politische Bewegung nicht weiter – weder in der Trans*­ noch in der Lesbenszene. Wir müssen keinen Bückling machen oder uns diesen Machtmustern anpassen. Damit wir – und ich meine mit «wir» alle Frauen – akzeptiert werden, müssen wir nicht unser Verhalten ändern, sondern über Sexismus, Hetero­normativität sowie das Zwangskorsett der Zweigeschlecht­lichkeit nachdenken und uns von diesen Zurichtungen befreien. Das wäre ein Gewinn für alle Menschen.

Wie sollte eine möglichst vorurteilslose Begegnung sein?

Es wäre schön, wenn ich mich nicht immer erklären müsste, mich nicht immer defizitär fühlen müsste. Ich möchte als eine der unendlich vielen Varianten von Frausein akzeptiert werden. Voraussetzung dafür ist, dass eine andere Person – also auch eine lesbische Frau – im Kontakt mit mir bereit ist, sich mit sich selbst, ihrer Rolle und ihrer Geschlechtlichkeit auseinanderzusetzen. Dafür braucht es von beiden Seiten Offenheit und selbstkritisches Denken.

Wir lesbischen Frauen – egal, ob trans* oder cis – sollten nicht gegeneinander kämpfen, sondern miteinander: Nur so kommen wir im politischen Kampf für unsere Rechte als Frauen weiter.

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[1] Cis­-Gender (Cis­-Frau, Cis­-Mann): bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht überein­ stimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Cis- und Begriffe wie cisgender, wurden von der Trans*Bewegung eingeführt, um Trans* nicht immer als Abweichung von der Norm zu definieren.

 

Recalaim Anger. Eine Hommage an weibliche* Wut

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„Anger is a source of creative energy. Rage sear the hearts of female poets and female critics“ (Jane Marcus)

(Den folgenden Beitrag habe ich an unserer Veranstalung „Reglaim Anger“ im Neumarkt Theater Zürich vorgetragen)

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Die verstorbene Schwarze Feministin Audre Lorde schreibt 1981: „Meine Antwort auf Rassismus ist glühender Ärger. (…) Ich habe gelernt, diesen Ärger zu nutzen, ehe er meine Visionen verzehrte. Früher tat ich es im Stillen, aber diese geballte Ärger machte mir Angst. Aus meiner Angst vor diesem Ärger habe ich nichts gelernt (…). Ausgesprochener Ärger ist meine Antwort auf rassistische Einstellungen und Verhaltensweisen“.

Brauchen wir mehr Wut? Jetzt, wo wir die Wutbürger haben? Wut ist zu einem Paradigma unserer Zeit geworden. Sie zeigt sich bei der Wut islamistischer Terroristen, bei den Trumps und Pegidas. Aber: Ist Wut nur als Motor zur Zerstörung denkbar? Ich glaube es gibt einen Unterschied zwischen Hass und Wut. Aber diesen Unterschied gilt es wieder zu entdecken.

Ich bin natürlich nicht die erste, die darüber nachgedacht hat. Eine lange Tradition von Denkerinnen und Aktivistinnen haben sich mit Wut beschäftigt: Virginia Woolf, Iris von Roten, Hélène Cixous, Audre Lorde, Sarah Ahmed, in der Schweiz aktuell auch Patricia Purtschert und Fork Burke – um nur einige zu nennen. Sie alle stellen die Frage, ob und auf welche Weise Wut befreiend sein kann.

Für Iris von Roten war Wut ein Mittel, sich gegen die Selbstgefälligkeit in der Schweiz zu stellen (siehe den Beitrag von Patricia Purtschert, in dem sie die unterschiedlichen Wut-Konzepte von Iris von Roten und Audre Lorde zusammenbringt). Überall in ihrem Werk findet man Wut, von Roten richtet sich gegen die Selbstgefälligkeit von Männern, gegen die Kuschelpolitik der bürgerlichen Frauen, gegen die schweizerische Mentalität und ihre Mythen, wie Purtschert schreibt. Ihre eigensinnige Mischung aus Analyse, Sprachgewalt, Ironie und Wut ist auch heute eine Provokation. Von Roten: „(…) mir scheint, die Frauen hätten zu häufig gute Miene zum bösen Spiel gemacht, zu häufig Kränkendes überhört. Ich halte es für nötig, dem Missfallen Ausdruck zu geben, die Selbstverständlichkeiten zu erschüttern.“ Frauen, so sagt sie, werden dazu angehalten, den Impuls des Widerstandes zu unterdrücken. Sie schrieb vom Kochen, Putzen, Häkeln als Disziplinartechniken, die den Lebensbereich der Frauen eingrenzen.

Aber schon im 19. Jahrhundert hat eine ganze Reihe von Frauen eine Form intellektualisierter Wut als Ausdrucks-Methode entwickelt: Charlotte Brontë und Virginia Woolf arbeiteten mit der Figur der „Mad Woman“. Es ging darum, sich die patriarchalen Zuschreibungen der hysterischen, der verrückten und wütenden Frau, des Monsters, der bösen Stiefmutter, der Hexe, der Medusa selbstbestimmt anzueignen.

In der Kulturgeschichte des Abendlandes ist weiblicher Zorn negativ konnotiert, in der Psychoanalyse haben wir die verschlingende Frau, die den Mann verzehrt, um sich den Penis einzuverleiben, um ihren Penis-Neid zu kompensieren. Die Frau repräsentiert einerseits das gefährliche Weibliche, das Unkontrollierte und Hysterische. Andererseits aber bleibt sie als Subjekt unsichtbar, sie handelt immer aus dem Mangel heraus. Sie will sich etwas einverleiben, das sie nicht hat. Die ‚männliche‘ Angst vor dem ‚Weiblichen‘ besagt: ‚Nicht ich habe Angst vor der Frau – sie ist böse.‘

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„A nation that don’t value your tongue will cut it out. I know who is the killer and fron where joy comes from“ (Fork Burke)

Historisch gesehen ist also weibliche Wut problematisch, weil diese Zuschreibungen es immer wieder möglich machten, Frauen als irrational abzuweisen. Wir können aber weibliche Wut auch gegen den Strich lesen, und sie als vernünftige Antwort auf Ungerechtigkeit interpretieren. Zum Bsp. schlägt Audre Lorde vor, die Unterscheidung von Vernunft und Wut, nicht zu akzeptieren. Denn es ist genau diese Unterscheidung, die ein System aufrecht erhält, in dem Frauen als emotional abgewertet werden, und Vernunft als männliche Eigenschaft den Platz einer überlegenen Perspektive einnimmt. Aber Wut steht nicht im Gegensatz zu Vernunft, sie ist nicht Ausdruck von Partikularinteressen, sondern ist Ausdruck eines ungerechten Allgemeinen.

Frauen erleben Ärger und Wut oft als Bedrohung. Sie haben gelernt, dass ihr Leben von der Gunst der patriarchalen Macht abhängt, von der Anerkennung durch Männer. Sie mussten vermeiden, jemand anderen ärgerlich zu machen, weil sie sonst als schlechte Mädchen abgestempelt wurden, als Mädchen, die nicht taten was man von ihnen erwartete. Wenn Frauen ihrem Ärger Luft machen, bekommen sie oft zu hören, dass sie Spielverderberinnen, „Killjoys“ (Ahmed) sind. Oder dass sie Kommunikation und Zusammenarbeit blockieren. Jemand schrieb an Audre Lorde: „Weil du Schwarz und lesbisch bist, scheinst du mit der moralischen Autorität des Leidens zu sprechen“. Lorde antwortet: „Ja, ich bin schwarz und lesbisch, und was ihr in meiner Stimme hört, ist nicht Leiden, sondern Zorn, nicht moralische Autorität, sondern Ärger. Das ist ein Unterschied.“

Lorde unterscheidet zwischen Wut und Hass: „Wenn ich im Zorn zu euch spreche, habe ich wenigstens mit euch gesprochen. Ich habe euch keine Pistole an die Schläfe gesetzt und euch nicht auf offener Strasse niedergeschossen.“ Hass – auch sprachlicher – zielt auf die Auslöschung der anderen Person, das sogenannte Silencing. Die Wut, die Lorde meint hingegen will nicht Unterwerfung. Wut reagiert vielmehr auf die Schwierigkeit, unter extrem ungleichen Bedingungen gemeinsam handeln zu können (ausführlich siehe Purtschert).

Noch vor dem Gefühl der Wut aber kommt die Erfahrungen von Schmerz und Verletzung. In den 70er Jahren wurde Schmerz oft zum Gegenstand einer „therapeutischen Identität“. Verletztheit wurde fetischisiert. Das Problem ist gemäss Sarah Ahmed, dass Verletzungen dadurch von ihrer Geschichte abgetrennt und individualisiert werden. Ahmed rät, Schmerz in Wut zu transformieren: „Moving the pain into the public“. Die Erfahrung des Schmerzes müsse über die rein individuelle Empfindung hinausgehen, verknüpft werden mit kritischem Bewusstsein über Strukturen und Systeme und dem Gefühl, dass der Schmerz falsch, das heisst ungerecht ist. Dann ist Wut plötzlich etwas etwas Energetisierendes, etwas Visionäres!

Und etwas Verbindendes: Audre Lorde ging es auch darum, ein ‚Wir‘ zu formieren, auch wenn dieses nur durch Dissonanz zustande kommen kann. Und eben durch Wut. Denn Frauen haben verschiedene Ausgangspunkte oder Erfahrungen, es machen nicht alle die gleichen Diskriminierungserfahrungen. Frauen sind Schwarz, weiss, Migrantinnen, Arbeiterinnen, Intellektuelle, Lesben, Transfrauen…Das führt auch zu Unverständnis und Wut untereinander. Lorde weist darauf hin, dass es kein einheitliches feministisches Subjekt geben kann, Frauen sind keine einheitliche Kategorie.

Lorde zeigt, dass die Stärke gerade darin besteht, Unterschiede zwischen Frauen als etwas Gutes zu begreifen, denn Ärger bewirkt Veränderung, nicht Zerstörung. Schwarze und weisse Frauen zum Beispiel können nicht einfach eine harmonische Einheit bilden. Aber sie können ihre Unterschiede durcharbeiten: den Kampf für Freiheit zu einem gemeinsamen zu machen bedeutet, zu erkennen, wie unterschiedlich die beteiligten Frauen sind. Während sich, wie Lorde schreibt, weisse Frauen an die „kleinen süssen dunkelhäutigen Kinder auf der anderen Strassenseite erinnern“ oder an das „geliebte Kindermädchen“, erinnern sich schwarze Frauen auch an die schmerzhafte Botschaft des Taschentuchs, das die Mutter der weissen Frau damals auf der Parkbank ausbreitete, weil das Schwarze Mädchen gerade da gesessen hatte. In diesen Erinnerungen ist ein Konflikt, ein Schmerz- und eben Wut.

Frauen werden oft als kollektive Identität in einen Topf geworfen, und dabei die weisse Frau als Massstab gesetzt. Das sollten wir nicht selber immer und immer wieder reproduzieren. Sondern die Differenzen betonen, und damit auch die Beziehungen zwischen Frauen anders erzählen, als Beziehungen der Reibung zwischen Subjekten, die einander dadurch auch Autorität geben.

Mit der Parkbank zeigt Lorde die Grenzen einer gemeinsamen ’schönen‘ Genealogie. Purtschert folgert: Die Szene auf der Parkbank sei keine schöne Geschichte, aber sie ist gleichwohl eine gemeinsame. Die Wut zwischen Frauen ermöglicht neue Formen der Kollektivität. Eine subversive Kollektivität, in der sich Subjekte an Subjekte richten. Nicht unter einer Zwangsidentität oder unter einheitlichen feministischen Idealen, die alle verkörpern müssen. Wut schafft Verbindungen, die immer wieder neu ausformuliert werden, in denen es immer auch Unbehagen und Reibung gibt. Oder wie Ahmed schreibt: „We need to stay uncomfortable within feminism“.

Die wenigsten Frauen haben Fähigkeiten entwickelt, ihren Ärger in konstruktiver Weise anzugehen. Zwar wurde in vielen Selbsthilfegruppen daran gearbeitet, Ärger auszudrücken, aber selten Ärger aufeinander. Wir müssen aber auch lernen, mit dem Ärger anderer Frauen umzugehen.

Wut beinhaltet nicht zuletzt auch Freude und Kreativität. Ahmed spricht von der wütenden Verwunderung über die Unabgeschlossenheit der Welt. Wut ermöglicht eine Vorstellung davon, dass die Welt auch ANDERS sein könnte. Dass wir auch anders leben könnten. Wut ist negativ und visionär zugleich. Sie ist hoffnungslosvoll. Denn sie kann nicht nur das sehen, was schief läuft, zum Beispiel den Ausschluss von Frauen oder People of Color, sondern auch das, was anders sein könnte. Oder noch besser: Sie kann das sehen, was bereits anders ist. Die Wut auf Diskriminierung und Unterdrückung vergisst manchmal zu bedenken, dass auch diskriminierte Menschen handelnde Subjekte sind. Und zwar solche, die auch etwas ganz Besonderes haben. Perspektiven nämlich, die niemand sonst hat.

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„Was soll das werden, liebe Schwanzwedler? Eine Alpenscharia, in der Frauen den Status von Kühen haben, sofern sie reproduktiv sind?“ (Güzin Kar)

Die italienischen Diotima-Philosophinnen plädieren dafür, nicht immer nur den Standpunkt der Unterdrückung zu beachten, sondern auch vom Standpunkt der Freiheit auszugehen, also von der Frage: Selbst wenn vieles zu unseren Ungunsten läuft, wo ist der Punkt, an dem wir bereits Freiheit leben und umsetzen?

Die feministische Forschung hat gezeigt: Frauen kommen zwar nicht in den offiziellen Geschichtsbüchern vor, aber das heisst nicht, dass sie nichts beigetragen, nichts getan hätten. Frauen haben einen Beitrag zur Geschichte geleistet. Vielleicht waren sie dabei nicht in den so genannten Zentren der Macht. Aber es gibt ein Anderswo der Geschichte, ein Anderswo des Politischen und der Existenz – das weder in den Mainstream-Geschichtsbüchern steht noch in Zeitungen, ohne das aber Geschichte nicht möglich wäre. Die Philosophin Wanda Tommasi schlägt vor, die historische Unsichtbarkeit der Frauen nicht nur als Folge von Ausschlüssen zu denken, sondern auch als deren Wille oder Entscheidung, sich nicht in den so genannten Zentren der Macht aufzuhalten. Als eine Weigerung, sich an den Orten der Männer aufzuhalten. Als eine Entscheidung, andere Dinge zu tun.

Auch Audre Lorde forderte die Betonung und Sichtbarmachung von ‚Andersheit‘. Die Erkenntnis und die Kritik ungerechter Verhältnisse und die Wut darüber sind deshalb visionär, weil dies auch das Erkennen des Ausgeschlossenen beinhaltet – und damit dessen Kraft. Denn es hat Kraft, sonst müsste es nicht mit aller Macht ausgeschlossen werden. Von der Wut führt also eine direkte Linie zur Power der Differenz: Wenn wir darauf achten, was das Anders-Sein, was also Minorisierung an Möglichkeiten bietet, tut sich neben Leid und Verletzung auch ein Horizont auf. Wer anders ist als das, was als Massstab für Normalität gesetzt wurde, hat die Möglichkeit, mehr zu wissen und die Welt anders wahrzunehmen.

Lesbische Frauen zum Beispiel lernen als erste ‚Sprache‘ die heterosexuelle und als zweite die lesbische, sie sind also im Unterschied zu Heterosexuellen ‚zweisprachig‘, oder anders ausgedrückt, in zwei verschiedenen Welten zuhause (Lising Pagenstecher, siehe Dorothee Markert). Das Problem ist, dass bei denjenigen, auf die unsere Kultur zugeschnitten ist und die sich deshalb zum Massstab für Normalität machen, die Unwissenheit über Differenz, und auch die mangelnde Neugier, darüber etwas zu erfahren, immer noch so weit verbreitet ist. Sie haben nicht gelernt, die Differenz wahrzunehmen, die hinter der scheinbaren Normalität versteckt ist, sie sehen dieses Treiben und Leben nicht, auch deshalb nicht, weil die Minorisierten sich in der Regel äusserlich anpassen, um keine Ablehnung zu erfahren. Wenn man nichts über Differenz weiss, ist man, wie Markert schreibt, schlecht vorbereitet, damit umzugehen, wenn sie sich dann plötzlich unübersehbar aufdrängt – wie das gerade geschieht, in unserer zunehmend interkulturellen Gesellschaft: Wer das Lernfeld der Differenz nicht zu nutzen gelernt hat, kennt nur eine Möglichkeit, mit ihr umzugehen: sie auszulöschen. Trump zu wählen.

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„Man muss es offenbar immer wieder sagen: Frauen, die Machtgefälle kritisieren, wollen Männern nicht den Pimmel abschneiden“ (Franziska Schutzbach)

Wir aber wissen schon lange, dass es differente Lebensweisen jenseits der Normen gibt. Und wir sollten sie noch viel mehr hervorholen, uns zeigen, die Welt daran gewöhnen und deutlich machen, dass eine andere Welt ein Stück weit längst da ist. Wir sollten nicht nur Diskriminierungen aufspüren, denn dann geht unser Blick auf das verloren, was wir selbst sind und was wir besitzen. Verloren geht der Blick auf unseren Reichtum. Benachteiligung glaubhaft zu vermitteln zwingt einen oft, über die positiven Seiten unserer Situation zu schweigen.

Es geht darum, nicht in einer „uns einengenden Negativheimat“ (Pagenstecher, zitiert nach Markert) stecken zu bleiben, Wut soll nicht in rebellische Abhängigkeit münden, die ständig sich gegen die Gegner wehrt, sie ablehnt, und sich deshalb ununterbrochen auf sie beziehen muss. Diese zwanghafte Rebellion bewirkt keine Veränderung, sondern hält uns in der Beziehung zum Falschen fest und hindert uns daran, uns anderem zuzuwenden.

Wenn wahr ist, was Wanda Tommasi betont: dass nämlich Unterdrückung und Herrschaft sich ohne das innere Einverständnis der Beherrschten nicht halten können, muss die Arbeit der Unterworfenen die Betonung ihrer Unterschiedlichkeit sein.

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Porsha O.: „Angry Black Woman“