AIDS in der Schweiz. Über ein mutloses Buch und eine ebensolche Buchvernissage

Das soeben erschienene Buch Positiv. HIV und die mutigste Kampagne der Schweiz beschreibt eine Erfolgsgeschichte. Teilweise zurecht. Teilweise geht dabei Wichtiges vergessen.

Gastbeitrag von Michèle Claudine Meyer[1]

Vorausschicken möchte ich: Ich wurde für das Buch interviewt, ich habe es gelesen und ich war im Publikum bei der Buchvernissage im Kosmos (Zürich). Grundsätzlich bin ich einverstanden mit dem Tenor im Buch und an der Vernissage: die Stop-Aids-Kampagnen waren grössten Teils ein Coup. Ein Wurf. Und es brauchte Mut und Macher*innen. Ihnen gebührt Ehre. Oder wie Roger Staub sagte «es ist schön zu Lebzeiten ein Denkmal zu erhalten».

Was aber fehlt, fehlt schmerzlich: In erster Linie ein kritischer Blick. Augenfällig ist das Fehlen des HIV-positiven Blickes auf die Kampagnen und deren Geschichte. Diese Replik ist ein Versuch, einen solchen, meinen persönlichen, Blick in Worte zu fassen.

Herausgeber des Buches ist der bekannte Schweizer Journalist und Republik-Mit-Gründer Constantin Seibt. Auf dem Podium betonte er, wie spannend es war, für dieses Buch zu recherchieren. Umso mehr erstaunt, wie mangelhaft die Recherche tatsächlich ist. Bereits die Sprache im Vorwort verrät das: «Es (das Buch) erzählt von reisenden Ärzten, schwulen Aktivisten, kühnen Beamten und trickreichen Werbern». Frauen spielen offenbar keine Rolle. Weiter sucht man vergeblich nach einer kritischen Perspektive auf die Kampagnen. Und wenn, dann fällt die Kritik wenig profund aus.[2]

Mir ist bewusst, dass das Buch den Fokus auf die Kampagne «Stop Aids» beziehungsweise «Love Life» legt. Ein solcher Fokus rechtfertigt jedoch meines Erachtens nicht, dass das Mitwirken von Menschen mit HIV – von HIVpositiven Aktivist*innen also – an der HIV-Politik der Schweiz insgesamt weggelassen wird (mit Ausnahme von André Ratti). Das ist nicht nur verfälschend, sondern respektlos.

Im Vorwort zum Beispiel schreibt Constantin Seibt: «Slogans wie «im Minimum ä Gummi drum» oder «Ohne Dings kein Bums» gehören zu den Jugenderinnerungen einer ganzen Generation. Wenn auch nicht zu den schönsten. Kaum jemand, der nicht einen Aidstest machte. Und dann eine Woche auf das Resultat wartete. Eine Woche einsamer Angst, in der man alle fünf Minuten seine Vergangenheit und sein Lymphknoten überprüfte. Doch auch ohne Albträume prägten die «Stop-Aids»- Kampagne das Leben fast aller».

Die Perspektive ist hier ausschliesslich HIV-negativ. Das heisst die Rede ist von jenen, die sich trotz allem nicht mit HIV ansteckten. Ausgespart sind Menschen, die heute noch mit HIV leben (Langzeitüberlebende), ausgespart sind auch jene, die damals an den Folgen von AIDS starben. Diese HIV-negative Perspektive zieht sich, mit wenigen Ausnahmen, durch das ganze Buch.

Wo sind die Menschen mit HIV?

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Wenig überraschend ist deshalb auch, dass im Buch kein Wort zu lesen ist über die nationalen (und regionalen) Organisationen von Menschen mit HIV/Aids, wie die P.W-A- Schweiz ~1991-1998, oder LHIVE 2007 – 2010. Beide Organisationen wurden übrigens von Frauen gegründet und geführt. Weiter frage ich mich, weshalb im Text von Barbara Reye «Positiv leben», den sie uns Interviewten als Endversion zuschickte, die Stellen über unser Leben massiv gekürzt sind und dadurch wichtige Dinge wegfallen. In meinem Fall fehlen drei entscheidende Aspekte: zwei gesunde Kinder, 24 Jahre Aktivismus und die mangelnde finanzielle Absicherung im Alter. Zu der im Buch publizierten Form des Textes hätte ich meine Einwilligung nicht gegeben. Ich empfinde dies als eine Instrumentalisierung meiner Biographie, mit der eine einseitig Narration nahe gelegte wird, nämlich das angeblich dramatische Scheitern im Leben mit HIV.

Sprachgebrauch

Das Buch ist immer wieder sprachlich unsensibel. Das Wort „Seuche“ zum Beispiel findet sich auf 105 Seiten ganze neunmal (ich habe dieses Wort in Zusammenhang mit HIV seit Ewigkeiten nicht mehr gehört oder gelesen, respektive nur dann, wenn Menschen fern ab des Themas sich dazu äusserten). Und übrigens: es heisst HIV-Test, nicht Aids-Test, eigentlich sogar HIV-Antikörper-Test.

Im Vorwort wird, erfreulicherweise, das sogenannte «Swiss Statement» zur Nichtinfektiosität erwähnt: «Sie (die Schweiz) war auch das erste Land, das HIV-Patienten unter erfolgreicher Therapie für nicht mehr ansteckend erklärte. Das Papier[3] ging 2008 um die Welt» Was allerdings fehlt ist eine Betonung der wissenschaftlichen Evidenz. Denn wer genau recherchiert wird feststellen, dass die Nichtinfektiosität noch heute angezweifelt wird und die Wissenschaftlichkeit deshalb immer wieder unterstrichen werden muss.

Reichlich undifferenziert ist in diesem Zusammenhang auch, dass nur Sex mit Kondom als „Safer Sex“ bezeichnet wird.[4] Bei Schutz durch Therapie[5] wird von der Schutzwirkung zwar gesprochen, aber der Sex trotzdem als „ungeschützt“ bezeichnet. Anders gesagt geht dadurch das wichtige Detail unter, dass HIV-positive Menschen durch die heutigen Medikationsmöglichkeiten nicht mehr ansteckend sind, und eben auch ohne Kondom Safer Sex haben. Eine solche Information oder eben ein sorgfältigerer Sprachgebrauch wären für die Ent-Stigmatisierung von HIV-positiven Menschen grundlegend. Stattdessen lobt Seibt, dass das Bundesamt für Gesundheit bis heute nicht müde werde und viel riskiere, um die Botschaft „Kondome!“ immer neu unter die Leute zu bringen. Aber: Irgendwo zwischen «ohne Dings kein Bums», dem Beweis der Nichtinfektiosität und der Entwicklung von Prep[6] müssen Welten von medizinischem Fortschritt liegen, nicht wahr? Die Botschaft bleibt aber: Safer Sex geht nur mit Kondom.

Fehlende Kampagnen-Kritik

„Dieses Buch handelt vom Schlimmsten: einer rätselhaften Seuche, die den sicheren Tod brachte“, heisst es im Vorwort (allein im Vorwort steht dreimal „Seuche“ – eine Art unreflektiertes Operieren mit dem Gruseln?). Abgesehen davon, dass durch die Todesrhetorik erneut Langzeitüberlebende ausgeblendet werden, wird zumindest der Ausschluss erwähnt, den die Krankheit bis heute mit sich bringt. Allerdings fehlt die Reflexion darüber, was denn verpasst wurde, dass Diskriminierung und Stigmatisierung heute noch alltäglich sind. Dass Menschen mit HIV ausgeschlossen werden, dass trotz Nichtinfektiosität die Vorurteile unverändert sind.

Im Vorwort werden die HIV-Kampagnen ausnahmslos positiv bewertet. Die Schattenseiten oder zumindest Fragezeichen zu Kondomisierung und Medikalisierung werden nicht einmal gestreift. Auch Olivia Kühni wiederholt das Lob des Kondoms in ihrem Beitrag «Eine kurze Gesichte des Lasters», sie schreibt: « Die Stop Aids-Kampagne tut genau dies: Sie schwätzt und lamentiert nicht. Sondern gibt eine einfache Regel ohne Spielraum: Bei Sex ein Kondom. Erstaunlich in einem Text, der sich ansonsten dem ‚Wilden und Triebhaften‘ widmet. Gegen Ende geht Kühni auf die Versuche der „Zähmung der Sexualität“ ein, doch leider nur ganz kurz. Es wäre eine gute Möglichkeit gewesen, hier kritische Gedanken zu Prävention einfliessen zu lassen. Und zum Beispiel auf den Slogan von HIV Aktivist*innen «Keine Rechenschaft für Leidenschaft»[7] und das oft formulierte Anliegen, sich trotz allem sexuell nicht fremdbestimmen zu lassen, einzugehen.

Das Lob der Kampagne ist grössten Teils berechtigt, aber greift trotzdem zu kurz. Vor allem dann, wenn dadurch die Schweiz in ein fragwürdig positives Licht gerückt wird. Dominik Imseng schreibt, «die gesellschaftliche Akzeptanz der Stop Aids-Kampagnen sei erstaunlich hoch gewesen» und meint weiter, «die radikale Offenheit Rattis, der im Oktober 1986 an Aids starb, trug massgeblich dazu bei, dass in der Schweiz die Diskriminierung der Infizierten weniger stark ausfiel als in anderen Ländern». Mir scheint das eine gewagte These, die schwer überprüfbar ist. Mit welchen Ländern wird was genau verglichen? Und um welche Art Diskriminierung geht es? Im nahen privaten Umfeld, bei der Arbeit, im Personalwesen, im medizinischen Bereich, im Bereich Altersvorsorge, Lebensversicherung, in der Gesetzgebung und der Strafverfolgung? Weiter lobt Imseng, die Schweiz habe einen «„anderen Weg“ gewählt und sich für „positive Motivation, den Apell an die Eigenverantwortung und die soziale Integration von Infizierten und Kranken“» entschieden.

Aus meiner Sicht wurden Solidarität und Integration in den Kampagnen gerade vernachlässigt. Ich habe als Frau, die selbst seit 24 Jahren mit HIV in der Schweiz lebt, die in beiden nationalen Organisationen engagiert war, eine ganz andere Wahrnehmung. Nämlich, dass Solidarität, Integration und Anti-Diskriminierung zwar kurz thematisiert wurden, aber keineswegs lebensnah oder fassbar anhand von Beispielen im Alltag. Ein einziges Mal kamen Menschen mit HIV aufs Bild und zu Wort, nämlich im Rahmen der Kampagne von 1991 (im Buch fehlen diese Beispiele. So vermisse ich schmerzlich das Plakat mit Iris Reuteler, der Präsidentin der P.W.A. Schweiz).

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Copyright BAG; in Erinnerung an Iris Reuteler, Präsidentin P.W.A-Schweiz

Auch fehlte in den viel gelobten Kampagnen die besagte Nichtinfektiosität – ein wichtiger Aspekt spätestens seit 2008, der für eine Ent-Stigmatisierung entscheidend gewesen wäre. Darauf geht Imseng in seinem Lob der Anti-Diskriminierung nicht ein. Auch nicht darauf, dass 2008 die in meinen Augen absurdeste Kampagne startete, auch Seibt erwähnt sie: «2008 folgte dann eine Serie mit kopulierenden Astronauten, Tauchern, Höhlenforschern. (Das Thema Geschäftsreise)» Nach der Veröffentlichung des Swiss-Statement zur Nichtinfektiosität hätte es ganz andere Möglichkeiten gegeben, nämlich einerseits sachlich und klar darauf hinzuweisen, dass Kondome weiterhin die einfachste und praktikabelste Schutzmassnahme, insbesondere für Ungetesteten, sind. Zugleich wäre ein öffentliche Kampagne zum Thema «Schutz durch Therapie» resp. Nichtübertragbarkeit von HIV bei erfolgreich therapierten HIV-Positiven hilfreich gewesen, um Diskriminierung und Ausgrenzung zu mindern.
Übrigens tut dies, die #undectable-Kampagne[8] vom Dr. Gay Team seit 2016. Erstaunlich, dass diese, wie auch alle anderen Zielgruppenspezifischen Kampagnen nicht einmal am Rande eine Erwähnung finden.

Hinzu kamen ab 2010 dann die sexuell übertragbaren Infektionen, oder wie Seibt schreibt: «Ab 2010 bekam Aids in der Kampagne erstmals Kollegen: die anderen Geschlechtskrankheiten- Widerlinge vom Tripper bis zur Syphilis» Die Frage sei erlaubt: Warum erscheinen die «Kollegen» erst 2010? Nachdem HIV/Aids als Infektion aufkam, wurden zum Beispiel Syphilis-Fälle längere Zeit vernachlässigt, zumindest wurden sie nicht mehr registriert. Auch wurde nach der Veröffentlichung zur Nichtinfektiosität, spätestens aber ab 2010, die Verbreitung von anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STI) gerne Menschen mit HIV angelastet. Es wäre dringend notwendig gewesen, die Kampagnen hätten nun auf Dialog gesetzt. Zum Beispiel nach dem Motto: „Ich sag Dir was ich habe. Ich habe HIV (und schütze Dich). Was hast DU? (Schütz Du mich vor Tripper/Syphilis und Co.)“ (der Verlauf und die Behandlung einer sexuell übertragbaren Infektionen ist für Menschen mit HIV schwieriger). Spätestens an dieser Stelle im Buch hätte ich mir überhaupt einen kritischen Blick auf die insgesamt eher «dialoglose» Kampagne gewünscht. Warum war zum Beispiel über alle die Jahre nur schneller und möglichst unbesprochener Sex Vorbild für Verhaltensempfehlungen, sprich: Präventionsbotschaften?

Seit 2014 ist der Slogan «Love Life» ergänzt mit «- bereue nichts». Die Idee war damit einen Schritt weiter: Man konnte das Kondom als die Lizenz auf wilden Sex verkaufen. Alles tun – ohne Reue» «… unterlegt von Edith Piafs Chanson Non je ne regrette rien.» Meine ausführliche Kritik an dieser Kampagne, kurz nach deren Veröffentlichung, findet sich hier: https://www.woz.ch/-50cf. Darum hier nur so viel: wie Ursula von Arx berichtet, so war auch ich auf Beerdigungen, bei denen Edith Piafs «non je ne regrette rien» gespielt wurde. Ich empfinde es als extrem unpassend, dass dieses Lied dann in der Prävention benutzt wurde. Ein Leben mit HIV, das nicht durch Reue geprägt ist, scheint ausserhalb der Vorstellungskraft der Kampagnenverantwortlichen zu liegen.

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Das Buch verpasst es nicht zuletzt auch zu fragen, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen dem Subtext der Kampagnenjahre und der anhaltenden Diskriminierung geben könnte. Carlos Hanimann kritisiert zwar zurecht die einseitige und homophobe Orientierung der Fachwelt ganz zu Beginn der Pandemie auf homosexuelle Männer. «Die Fokussierung auf homosexuelle Männer sollte sich schon bald als falsch herausstellen, aber die Spur war gelegt. Die Folge war eine Stigmatisierung, die über Jahre anhalten würde.» Aus den Jahren der Diskriminierung sind aber unterdessen Jahrzehnte geworden. Hanimann fragt nicht, inwiefern eine Primär Prävention, die sich bis heute fast ausschliesslich auf individuelles Verhalten und Zielgruppen konzentriert, die gesellschaftlichen Verhältnisse aber aussen vor lässt, die Solidaritäts-, bzw. Antidiskriminierungs-Arbeit nicht konterkariert.

Eine kritischere Auseinandersetzung mit der HIV-Politik, die im BAG viele Jahre durch Roger Staub geprägt wurde, müsste zumindest ein Dilemma aufzeigen, wenn nicht gar einen Widerspruch: Wenn zum Beispiel jahrelang um den 1. Dezember, dem Weltaidstag, dem Tag der Solidarität und des Erinnerns, Ansteckungszahlen in den Medien herumgereicht werden, angerichtet mit süffigen Kommentaren zur Sorglosigkeit und ähnlichem von Homosexuellen und MSM, hinterlässt das Spuren.

Der Markenwechsel von «Stop Aids» zu «Love Life» wird im Buch als absolut gelungen dargestellt. Mir erschliesst sich nicht ganz, wie man zu dieser Einschätzung kommen kann. Womöglich hat es damit zu tun, was auch in Constantin Seibs Text unfreiwillig zutage tritt: «Es gab viele Stakeholder. Das Amt, die Politik, die Leute von der Aidshilfe.» Ein Stakeholder, das zeigt dieses Zitat, fehlt: Menschen mit HIV. Aktivist*innen. Sicher hätte es dem beschriebenen Markenwechsel von „Stop Aids“ zu „Love Life“ gut getan, Menschen mit HIV einzubeziehen.

Fakten und Zahlen

Nadine Jügensen schreibt in «Stand der Dinge»: «Angesichts der hohen Kosten, welche von den Krankenkassen und damit von der Allgemeinheit getragen werden, ist die Vermeidung von Ansteckungen das wichtigste Ziel der Prävention». Die Kosten der Erkrankung sind der Antrieb für die Prävention? Ich komme nicht um die Frage herum, ob dies ein politischer Werbetext ist um das Präventions Budget gegen die Sparpolitiker zu verteidigen. «Im Vergleich zu den Kosten eines einzigen HIV-Patienten von 25’000 Franken pro Jahr oder von ungefähr einer Million bis zum Lebensende, sind die Kosten von gut 2 Millionen Franken für die Kampagne vernüftig investiertes Geld- vorausgesetzt, sie verhindert mindestens zwei neue Ansteckungen». Mir ist bewusst, dass dieses Argument schlüssig und zielführend ist. Es liest sich trotzdem nicht schön. Und die Frage sei erlaubt: Bei welchen Krankheiten wird das sonst so gemacht, ausserhalb der Budgetdebatten in politischen Gremien? Welchen Patient*innen werden ihre lebenslangen Kosten derart vorgerechnet?

Über die Veröffentlichung der Erkenntnisse zur Nichtinfektiosität und Nichtübertragbarkeit von HIV schreibt Jürgensen: «… Stattdessen plädierten sie (Anmerkung :Vernazza u. Co) dafür, Betroffenen ausführlich über die Vermutung einer fehlenden Ansteckungsgefahr zu informieren.« Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war Nichtinfektiosität keine Vermutung, sondern wissenschaftlich evident, das heisst gestützt auf eine breite Datenlage. Unterdessen ist diese Erkenntnis weltweit weitgehend anerkannt und wesentlicher Teil der UN-aids-Stategie. «das Ziel der UNO ist, das bis 2020 weltweit 90 Prozent der Infizierten bekannt sind (Anmerkung: bekannt meint getestet) Davon sollen 90 Prozent mit antiretroviralen Medikamenten behandelt sein. Und zwar so, dass sich bei 90 Prozent kein Virus mehr im Blut nachweisen lässt (Anmerkung: so dass sie sexuell nicht mehr ansteckend sind!)«.

Jürgensen geht jedoch nicht darauf ein, welchen zentralen Bedingungen verbessert werden müssten, damit die Ziele umgesetzt werden können. Politische und finanzielle Hindernisse werden zwar erwähnt, es fehlen trotzdem klare Worte über ungleiche Ressourcenverteilung, Patente und Profit, über (internationale) politische und moralische Verantwortung. Es wird nicht gesagt, dass gerade die ungleiche Ressourcenverteilung und die andauernde Diskriminierung erwiesenermassen Gründe sind, weshalb Aids «trotz wirksamer Therapie eine gefährliche Pandemie bleibt.»

Seichte Unterhaltung für HIV- Negative?

Last but not least zum Podium an der Buchvernissage: Die eingestreuten Anekdoten im Buch haben mich mehr als seltsam berührt. Eine der Anekdoten handelt von zwei Brüdern, den Seibt Brüdern, die einen HIV-Test machten und wie sie nach einer Woche Ungewissheit ziemlich verwirrt und gestresst, das Testergebnis abholten. Seibt erzählte sie auch auf dem Podium. Die Pointe ist bemerkenswert: « Die Dramatik der gespenstischen Nächte war vorüber. Nun würde alles weitergehen wie vorher. Der jüngere Bruder musste sich darum kümmern, die nächste Rolle zu bekommen. Und der ältere Bruder würde jetzt die Abschlussprüfung an der Universität machen müssen. Eben noch hatte das Leben kurz ausgesehen. Nun würde ihnen nichts erspart bleiben: ein Beruf, vielleicht eine Ehe, die Verantwortung, das Leben» Für mich klingt das wie seichte Unterhaltung für HIV- Negative.

Die auch auf dem Podium vorgetragene Erzählung stellt die von HIV Verschonten ins Zentrum, sie spricht vom Glück, verschont worden zu sein. Das scheint mir angesichts der Menschen, die an den Folgen von AIDS gestorben sind, ihren Hinterbliebenen und nicht zuletzt für Menschen, die heute mit HIV leben und das Pech haben, ihr Leben umkrempeln zu müssen, geschmacklos. Mir jedenfalls tat es weh, und ich hätte gerne laut gerufen: Möchte wer tauschen? Mit den Toten oder mit den HIV-positiven Überlebenden?

Zur Auswahl der Podiums Teilnehmer*innen: Da sassen drei Männer und eine Frau. Ein Herausgeber und Journalist, ein Infektologe und ein ehemaliger BAG-Beamter, eine junge Frau mit der Bezeichnung «Betroffene». Drei HIV-Negative (bzw. Unspezifische/Unbenannte) und eine HIV-positiv Geoutete und Benannte. Oder: Drei Macher und eine Erlebende. Und eine Moderatorin, die dem Gestus der unkritischen Selbstbeweihräucherung leider nichts entgegensetzte.

Roger Staub wurde vor allem als Aktivist gefeiert. Tatsächlich aber war Staub über viele Kampagnen-Jahre im Bundesamt für Gesundheit tätig. Zuerst als Mandatsträger, später als Beamter und Funktionär. Ein bewegter und bewegender Beamter, dem vieles in der HIV-Politik anzurechnen ist, einer der seine Beamtenlaufbahn als Aktivist angefangen hat. Aber – so schmerzlich solch ein Rollenwechsel und Spagat ist – als Abteilungsleiter im BAG war Staub Funktionär. Und das haben gerade Aktivist*innen zu spüren bekommen.

Am meisten berührte mich der Umstand, dass weder Roger Staub noch Pietro Vernazza – bei allem berechtigten Lob ihrer Arbeit – erwähnten, dass Menschen mit HIV mitbeteiligt waren an dem sogenannten Swiss Statement. Als hätte es uns nicht gegeben.

Mit Jennifer Annen war eine junge Frau auf dem Podium, die seit Geburt HIV-positiv ist, eine ‚Unschuldige‘, ein ‚Opfer‘, eine, die nie die Chance hatte, sich vor HIV zu schützen, eine, bei der Keine*r über ihr sexuelles Vorleben spekuliert. Eine Person auch, die qua ihres Alters keine Zeitzeugin der Kampagnenzeit sein kann. Vielleicht ist es nicht augenfällig, aber es ist ein Statement. Eines, das auch dazu passt, dass es keine Möglichkeit gab, Fragen zu stellen oder mitzudiskutieren im Publikum, wir blieben Zuschauende und Beifallklatschende.

Gefeiert wurden die Männer in der Runde, die Negativen, ihnen wurde ein Denkmal gesetzt.

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Aktion „Fliegende Kondome“

***

[1] Michèle Claudine Meyer ist seit 24 Jahren HIV Aktivistin

[2] Immerhin findet im Zusammenhang mit der Kritik am Slogan: « Love Life- do not regret.» der Schweizer Positiv Rat eine Erwähnung. Auch wenn diese Kritik, zwischen den Zeilen, diminuiert wird.

[3] Swisstatement: http://www.aids.ch/de/downloads/pdfs/EKAF-Statment_2008-05-089.pdf

[4] Etabliert wurde der Begriff safer sex so: eindringender Vaginal-und Analsex mit Kondom, beim Oralsex kein Sperma oder Blut in den Mund.

[5] Schutz durch Therapie: https://www.aidshilfe.de/schutz-therapie

[6] HIV-Prä-Expositionsprophylaxe PreP: http://www.mycheckpoint.ch/de/generic/node/405#PrEP

[7] Im September 1990 trafen sich in Frankfurt 250 HIV-Positive unter dem Motto „Keine Rechenschaft für Leidenschaft“ zur ersten „Bundes-Positiven-Versammlung“. Der Grundgedanke dabei war, so unterschiedlich wir sind, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren noch fremdbestimmen: Es ist unser Leben, und unsere Sexualität(en).

[8] #undetectable von Dr. Gay: https://www.drgay.ch/de/hiv-positiv/leben-mit-hiv/undetectable