Wer von Männlichkeit nicht reden will, soll auch zum Faschismus schweigen

Die Ereignissen am Wochenende in Charlottesville machen erneut klar: Wir müssen endlich über toxische Männlichkeit sprechen. Und über die Mittäterschaft der Frauen*.

Männer*[1] fahren gerade die Welt an die Wand. Jedenfalls scheint das so, wenn man die Nachrichten einschaltet. Und auch einige Zahlen bezeugen das: Die allermeiste Gewalt geht von Männern* aus, sei es durch Kriege, sei es im Privaten, in Schlägereien. Sei es an der Spitze von Regierungen, ausbeuterischen Wirtschaftsweisen und Konzernen. Sei es als Anführer fundamentalistisch-religiöser Bewegungen oder durch Faschismus und Terror, wie in den letzten Tagen wieder deutlich wurde.

Wer nicht spätestens seit den Ausschreitungen in Charlottesville bereit ist, über den Faktor Männlichkeit nachzudenken, macht sich nicht nur lächerlich, sondern mitschuldig. Die hyper-maskulinen Aufmärsche zeigen mehr als deutlich, dass Männlichkeitsphantasmen eine treibende Kraft für ‚White Nationalism’, Faschismus, Populismus und Gewalt sind. Machen wir uns nichts vor: Es ist zwar möglich, aber kaum wahrscheinlich, dass eine Frau* mit ihrem Auto absichtlich in eine Menschenmenge rast.

Natürlich sind nicht alle Männer* gewalttätig oder sitzen in machtvollen Positionen mit zerstörerischen Effekten. Viele Männer* leben in Armut, haben diverse Probleme. Und natürlich gibt es auch gewalttätige und faschistoide Frauen*, wie die derzeitigen Anführerinnen der europäischen Rechten deutlich machen. All das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass wir es mit einem gravierenden Männlichkeitsproblem zu tun haben. Selbst wenn Geschlechternormen sich zweifelsohne gelockert haben, und der traditionelle Patriarch in der postfordistischen Gesellschaft keine vorherrschende Figur mehr ist: Omnipotenz scheint ein unhinterfragter Traum vieler Männer*. Viele sind vollgepumpt mit Allmachtphantasmen – gerade dann, wenn sie real keine oder wenig Macht haben. Und sie hinterlassen eine tödliche Spur, wenn sie das Ideal nicht erreichen. Das untergehende Patriarchat ist womöglich gefährlicher als das Patriarchat selbst. So, wie auch das angeschossene Tier besonders gefährlich ist.

Wir müssen endlich Ernst nehmen, welche Rolle Männlichkeit, der Beweis von Männlichkeit und der Beweis ihrer Überlegenheit – sei es gegenüber Frauen* oder anderen Männern* –  in vielen Handlungen und Verhaltensweisen von Männern*, in Entwicklungen der Weltpolitik, der Wirtschaft oder in Ideen spielen. Es wird sich sonst nichts ändern. Nie. Das bedeutet zu allererst, dass Männer* über ihre Geschlechtlichkeit nachdenken müssen. Das ist anspruchsvoll und paradox. Denn Geschlecht kommt im männlichen Subjektverständnis, in der männlichen Selbsterfahrung gerade nicht vor. Anders gesagt: Männlichkeit ist darüber definiert, nicht über Männlichkeit nachzudenken.

Mann* könnte das aber, ja muss es lernen. Männer* müssen für diese Fragen Verantwortung übernehmen. Bisher tun sie das nicht. Oder kaum. Lieber behaupten sie, wir bräuchten keinen Feminismus. Oder: Geschlecht spiele in der Welt keine Rolle. Sie weigern sich, über Männlichkeit nachzudenken, weil sie sich selbst nicht als geschlechtlich wahrnehmen. Männer* sehen sich als „Menschen“. Ein Geschlecht, das haben nur Frauen*. Frauen* stehen für das Besondere, während Männer* es gewohnt sind, das Allgemeine zu repräsentieren. Auch eine Hautfarbe haben nur andere. Kurzum: Vor allem weisse Männer* begreifen sich in der Regel als unmarkiert. Partikular sind immer nur Menschen of Color, Frauen* oder andere (deshalb heisst es ja „Frauenfussball“). Mit der Folge, dass Männer* ihre Vorstellungen vom Leben, von Politik, Karriere, Macht, Nation usw. nicht für spezifisch, nicht für vergeschlechtlicht halten. Sondern für universell gültig.

Viele Männer* weigern sich, sich mit der spezifischen Sozialisation, die sie als Männer* erfahren, auseinanderzusetzen. Je nach Schicht, Hintergrund, Herkunft ist diese natürlich unterschiedlich. Im Grossen und Ganzen ist Männlichkeit jedoch fast überall auf der Welt mit „Überlegenheit und Macht“ konnotiert. Welche zerstörerischen Folgen dies hat, für sie selbst und für die Welt, wird weiterhin systematisch ausgeblendet.

Wie viele Tote muss es noch geben?

Auch Frauen* sollten sich das fragen. Denn sie sind nicht selten Stabilisatorinnen der toxischen Männlichkeit. Frauen* sowie überhaupt alle Geschlechter können patriarchalisch handeln oder sich an entsprechenden Logiken orientieren. Phallozentrismus ist gewiss keine rein männliche Sache. Vor kurzem habe ich das Buch von Christina Thürmer-Rohr „Vagabundinnen“ wieder hervorgeholt, und war überrascht, wie brandaktuell es ist. Vieles von dem, was Thürmer-Rohr schreibt, wurde vergessen, weil feministisches Wissen strukturell immer wieder vergessen, ja ausgelöscht wird. Jede Generation Frauen* beginnt wieder von vorne. Zum Beispiel damit, über die eigene „Mittäterschaft“, den eigenen Anteil an patriarchalen Logiken nachzudenken.

Frauen* haben, wie Thürmer-Rohr schreibt, die patriarchale Zurichtung der Erde nicht aufhalten können. Oft haben sie sie nicht mal bemerkt, sie freundlich-gläubig gebilligt, oder gar erfindungsreich unterstützt. Frauen* sind zu Mittäterinnen geworden. Indem sie – besonders im Zuge des Gleichheitsangebots – häufig so handelten und dachten, wie es den patriarchalen, kapitalistischen, kolonialen und ausgrenzenden Mechanismen entspricht. Anders ausgedrückt: Viele Frauen* haben sich den Status Quo männlicher Errungenschaften mitangeeignet, und sie haben dabei teilweise Freiräume und Privilegien geerntet – nicht selten auf den Schultern von Schwächeren. Sie haben sich in der mörderischen Normalität eingerichtet, wurden zu deren Stütze, haben destruktive Macht ermöglicht und sie auch immer wieder selbst ausgeübt.

Der Preis, den Frauen* dafür bezahlen, ist hoch: sie haben auf ihre eigene Entwicklung verzichtet, haben auf die Entwicklung einer Gegenbewegung verzichtet. Oft haben sie die historische Aufgabe, die das Patriarchat für sie vorgesehen hat, widerstandlos erledigt: Nämlich „Sicherheiten und Täuschungen aufrechtzuerhalten“ (Thürmer-Rohr). Frauen* haben die „Kulturlügen“ aufrechterhalten und für „gute Hoffnung“ gesorgt, sie haben beständig und diszipliniert durchgehalten und damit vorbildlich und kontinuierlich bewiesen, dass dieses Leben sinnvoll und in Ordnung ist.

In weiblichen Handlungsweisen hat sich ein Fokus für die Harmonie durchgesetzt. Sicher ist das nicht nur schlecht, es hat womöglich verhindert, dass es noch mehr Tote gab (und gibt). Allemal war und ist das aber auch System-stützend. Frauen* haben sich mit der Harmonie beauftragen lassen, obwohl sie im Grunde wissen: Die Bombe wird fallen. Dieses Wissen haben Frauen* geopfert, wie Thürmer-Rohr schreibt, und sich stattdessen mit „Glaube, Liebe, Hoffnung“ beauftragen lassen, mit der Liebe zum starken Mann, mit der Hoffnung auf den Sieg, mit dem Glauben an Götter, Illusionen, Hirngespinste und Träume. Eifrig haben sie den Glauben an Sinn gepflegt, an das Jenseits und an die Zukunft. Oder einfach die Hoffnung, „dass alles irgendwie weitergehen und halb so schlimm“ sein würde.

Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann schilderte in ihren Büchern Frauen*, die Opfer von Männern* sind und keine Chance haben. Die aber gleichzeitig unentwegt versuchen, ihre verzweifelte Lage vor den Männern* und vor der Welt zu verbergen. Um diese zu schonen. Frauen* schützen sich selbst ebenso wie Männer* vor der unguten Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund konnten sich Männer* „ihren Ritt ins Desaster, ihre moralische Pleite und Verrottung leisten. Denn Frauen hielten die Fiktion aufrecht, dass alles seinen Sinn habe“ (Thürmer-Rohr).

Folgt man Thürmer-Rohr, ist es an der Zeit, dass Frauen* aufhören, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie haben lange genug die Wahrheit nicht gesagt. Auch wenn es schmerzhaft ist: Frauen* sollten gegen ihre Mittäterschaft revoltieren und die patriarchalen Verhältnisse als Determinanten ihres Verhaltens aufkündigen. Das bedeutet, dass Frauen* sich demoralisierend und enttäuschend verhalten. Dass sie zu Spielverderberinnen werden, und sich weigern, den tödlichen Dreck wegzuräumen, sich weigern, die ewigen Trümmerfrauen* des Patriarchats zu sein.

Das bedeutet, wie Thürmer-Rohr schreibt, stolz, aber hoffnungs-los zu leben. Denn das hier können Frauen* nicht wieder gut machen. Sie müssen den Auftrag der Harmonisierung ausschlagen. Ja mehr noch: Sie müssen das patriarchale Erbe und die Hoffnung auf Beteiligung ausschlagen. Es kann keine Perspektive sein, auf dieser Erde endlich gleich „wie Männer*“ zu sein.

Wir müssen heimatlos bleiben, im ‚Vaterland‘.

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[1] Ich schreibe Frauen* und Männer* mit Sternchen, weil es sich um gesellschaftliche Konstruktionen handelt. Das heisst aber nicht, dass diese nicht ‚real’ wären, und ‚reale’ Wirkungsweisen hätten.

In Verteidigung der Gegenwart

„Ach meine Liebe / du glaubst zu viel / Kannst du nur leben / Wenn du was glaubst? / Ich glaube gar nichts / Und lebe immer noch. / Ich lebe immer noch / Ich lebe immer lieber / Ich liebe immer wieder / Ich liebe immer lieber / Ich glaube gar nichts.“ (Christina Thürmer-Rohr)

 

Liberale und Linke – falls solche Kategorien noch taugen – sind derzeit erschrocken, ja überrascht darüber, dass der Faschismus auch im 21. Jahrhundert noch möglich scheint. Hilflos schauen wir zu, wie sich neue rechtspopulistische Hegemonien bilden, wie autoritäre Weltanschauungen wieder Zulauf erhalten. Kommentatoren verkünden „das Ende des liberalen Zeitalters“ (Constantin Seibt). Oder reden von einem „Backlash“ – als wäre all das lediglich ein Rückschritt oder Misstritt auf dem ansonsten richtigen Pfad in die Zukunft. Als wäre ein solches „liberales Zeitalter“ für eine Mehrheit der Menschen jemals real, geschweige denn realistisch gewesen. Seit Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten jedenfalls herrscht Verwunderung über die Endlichkeit scheinbarer Selbstverständlichkeiten.

Es ist wichtig, erschrocken zu sein. Aber wir müssen auch darüber nachdenken, was dieses Erschrecken bedeutet: Was hatten wir gehofft? Was erwartet? Worin hatten wir uns gesonnt? Mit dem jüdisch-deutschen Philosophen Walter Benjamin liesse sich sagen, dass wir vielleicht erschrocken sind, weil die derzeitigen Entwicklungen ein bestimmtes, bis heute verbreitetes Geschichtsverständnis erschüttern, nämliche die Vorstellung, die Geschichte der Menschheit sei ein kontinuierlicher Fortschrittsprozess. Und in der Zukunft warte die Erlösung. Hatten wir insgeheim – und trotz besseren Wissens – gehofft, alles würde immer besser, oder habe gar einen „Endzweck“ (Hegel)? Falls dem so ist, wird diese Hoffnung derzeit schwer erschüttert. Und es stellt sich die Frage, wie oft wir eigentlich noch bösen erwachen wollen.

Benjamin betrachtete Fortschrittsgläubigkeit als grosses Hindernis für eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die in den Köpfen vieler Menschen verbreitete „progressive Doktrin“ richte sich vor allem auf die Zukunft, auf das „erst noch Kommende“. In der Fortschrittserzählung habe die „Jetztzeit“, also die Gegenwart den Status einer Vorstufe, des ‚Noch nicht’, sie erscheine deshalb als unwichtig und könne immer wieder aufs Neue vertagt werden. Anders ausgedrückt: Wenn der Massstab der Entwicklung das Paradies in der Zukunft ist, ist die Gegenwart unweigerlich ungenügend, ja ein Betrug an diesem Paradies. Eben eine Enttäuschung. Und mithin unwichtig.

Zwar sind, seit Benjamin seine Gedanken formulierte, Jahrzehnte vergangen. Die Begrenztheit der Fortschrittsideologie und ihr Zerstörungspotential haben sich seither immer wieder deutlich gezeigt. Trotzdem hat sich die Fortschrittserzählung hartnäckig gehalten. Vermutlich deshalb, weil die Hoffnung auf eine Befreiung in der Zukunft eine bürgerliche Haltung ist. Oder wie Benjamin es formuliert: Die Fortschrittserzählung ist das Geschichtsverständnis der Herrschenden. Mit ihr lässt sich nicht nur die Gegenwart vertagen, sondern auch die Vergangenheit leugnen. Geleugnet werden kann zum Beispiel, dass der Reichtum und die kulturelle Dominanz der einen oft ein Erbe sind, das auf der Unterwerfung von anderen beruht.

Oder anders gesagt: Eine Fortschrittserzählung kann keine ‚Altlasten’ mitnehmen, sie muss die Toten der Vergangenheit hinter sich lassen. Fortschrittsgläubigkeit ist geschichtsvergessen, sie hegt den Wunsch, die Vergangenheit möge ein für allemal überwindbar sein und weigert sich, mit dem Erbe der Vergangenheit umzugehen. Die bürgerliche Fortschrittserzählung ist deshalb auch eurozentrisch und androzentrisch. Nicht nur, weil häufig allein ‚der Westen’ und Männer als treibende Kraft von Entwicklung und Fortschritt, überhaupt von Geschichte imaginiert werden, während aussereuropäische Gesellschaften und Frauen im „Warteraum der Geschichte“ (Dipesh Chakrabarty) verweilen, ja im Prinzip gar keine Geschichte haben. Sondern auch deshalb, weil die dem westlichen Fortschrittsprojekt inhärente koloniale Expansion, Gewalt und patriarchale Unterdrückung verdrängt werden. Mit dem Ergebnis, dass Unterdrückung und Ausbeutung auch in der Gegenwart fortgesetzt werden können. Die Gewaltökonomien der Gegenwart werden in der „progressiven Doktrin“ nicht als ein Kontinuum historisch gewachsener Asymmetrien und Herrschaftsverhältnisse verstanden, sondern sie erscheinen lediglich als geschichtslose ‚Reste‘ oder ‚Ausrutscher‘.

Die feministische Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr schätzt die Lage viele Jahre später in ihrem Essay „Abscheu vor dem Paradies“ (1989) ähnlich ein und plädiert für eine Verabschiedung vom „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch). Denn Hoffnung, das sei lediglich die Rechtfertigung der Barbarei, eine Flucht vor dem Monströsen der Gegenwart. Das Gegenwärtige verkomme – wie auch der Politologe Alex Demirović (2016) jüngst schrieb – zu einer Art Übergangsphase, die nie ganz so ernst, nie ganz so wichtig sei. Nichts, das hier und jetzt und sofort verändert werden müsste.

So berufen sich auch aktuelle Politiken häufig auf Versprechungen und Aussichten für die Zukunft – kaum ein Politiker, der nicht die „zukünftigen Generationen“ adressiert, „die Zukunft unseres Landes“ oder „unseres Volkes“. Es gibt aber, folgt man Demirovic, keine ‚Erlösung’ für zukünftige Generationen. Weil es keine Erlösung von der Geschichte gibt. Alles, was jemals geschah, bleibt gegenwärtig. „Die Geschichte ist die Zeit der Gegenwart“, wie Demirovic schreibt. Das bedeutet nicht, dass sich nichts verändert.  Schon gar nicht handelt es sich um einen Aufruf zum Pessimismus, oder gar um eine Abkehr von Utopien. Vielmehr geht es um ein radikales Plädoyer für die Gegenwart.

Dazu müssen wir uns der Vergangenheit zuwenden, dem „Antlitz der Besiegten“ (Benjamin). Denn die Kraft der emanzipatorischen Praxis speist sich nicht aus der Erlösung künftiger Generationen, sondern aus der Wut über die Knechtung der Vorfahren. Die Fortschrittserzählung schneidet genau diese Kraft ab. Sie verbannt die Toten und trennt Unterdrückung, Verletzung und Leid von ihrer Geschichte, so dass diese in der Gegenwart nur noch als individuelles Scheitern und Versagen wahrgenommen werden. Daraus erwächst kein widerständiges Denken und Handeln, Vorstellungen von der Freiheit verkümmern oder gehen über in die Produktion von Reichtum, Change-Management, Work-Life-Balance-Optimierung oder Positive Psychologie.

Benjamin war der Überzeugung, man müsse den Wind der Weltgeschichte ohne Erlösungspathos in die Segel lassen. Das heisst Utopien entwerfen, die nicht erlösen, sondern „Sprünge ermöglichen“ – in den „Rissen und Brüchen der Gegenwart“, und mit den Splittern der Vergangenheit. Er plädierte dafür, die Gegenwart zu dem Ort zu machen, an dem wir handeln, das System kritisieren, Utopien umsetzen. Denn die „Jetztzeit“ ist die wichtigste und wertvollste Zeit, die wir haben. Wir brauchen Utopien, die Fortschrittssehnsüchte, Prophetismus, Glück und Souveränität-Phantasmen dekonstruieren, weil diese die Emanzipation von innen heraus pervertieren. Und Emanzipation immerzu vertagen. Es gilt deshalb, die Gegenwart in Augenblicke emanzipatorischer Praxis zu verwandeln, in denen ‚Erlösung’ nicht in eine ferne Zukunft verlegt wird, sondern in jedem Augenblick stattfinden kann.

Auch feministische Denkerinnen haben viel zu sagen zum Thema Utopien, die „Sprünge in der Gegenwart“ ermöglichen. Heidrun Erhardt (1995) kritisiert an klassischen Utopien, diese würden zwar „Menschen in Bewegung bringen”, diese aber „auf einen Endzustand hin orientieren”, auf eine Gesellschaft, „die fertig, perfekt, nicht mehr veränderbar ist, in der sich nichts mehr bewegt”. Sie richtet sich gegen den Endpunkt,  gegen die Idee eines Ziels. Vielmehr begreift sie feministische Ungeduld, das Nicht-Erwarten-Können einer postpatriarchalen, gewaltfreien Gesellschaft, die Sehnsucht selbst als eine wesentliche Dynamik des Utopischen: „Unser Bestreben ist es, die Bewegung hin zur Utopie in die Utopie selbst aufzunehmen”, die Utopie „in unserem heutigen Leben bereits aufzuspüren”, sie „beweglich” zu halten, schreibt Erhardt. Kurzum: Frauen*projekte, Aktivismus, Ent-Unterwerfung, die Entscheidung, sich auf andere Frauen* zu beziehen – all das findet hier und jetzt bereits statt.

Auch Thürmer-Rohr verteidigt die Gegenwart als den Ort, an dem wir tatsächlich ankommen, leben und Widerstand leisten müssen. Das geht nur, wenn wir radikal unversöhnlich bleiben: „Der verlässlichste Widerstand stammt aus der Fähigkeit zu leben – unversöhnt mit den Zurichtungen an uns und unversöhnbar mit unserer Mittäterschaft.“ Ein Widerstand, der nicht Erlösung verspricht, sondern die eigenen blinden Flecken aufspürt. Der nicht unbedingt positive Bilder produziert, sondern eine Bresche für die Gegenwart schlägt. Utopien haben Kraft, wenn sie die Toten nicht verdrängen und in sich selbst unbehaglich bleiben.

 

(Der Titel dieses Blog-Post ist dem Text „Der Tigersprung. Überlegungen zur Verteidigung der Gegenwart“ von Alex Demirovic in der Prokla (2016) entliehen, der mich zu diesem Blogpost inspiriert hat)