Ich habe in den vergangenen Tagen kaum Medien konsumiert. Das hat gut getan und ich werde es noch eine Weil so halten. Auch deshalb, weil das Wenige, das ich mir zu Gemüte führe, jeweils eine andere Qualität bekommt, ich mich damit intensiver beschäftige. So zum Beispiel mit dem Radio-Interview mit der Aktivistin und Journalistin Kübra Gümüşay. Das Gespräch hat mich berührt und nachdenklich gemacht.
Gümüşay spricht unter anderem darüber, dass durch das Internet, durch die Digitalisierung eine Diskussionskultur entstanden ist, in der Menschen an einzelnen Aussagen bemessen werden: Was du vor 10 Jahren oder einem Jahr mal gepostet, geschrieben, getwittert hast, ist für ewig im Internet. Und führt dazu, dass du daran aufgehängt werden kannst für den Rest deines Lebens. Egal, ob du deine Meinung geändert hast, ob du heute anders denkst, ob dein Post im Affekt, unüberlegt oder unvorsichtig formuliert war.
Es ist, was derzeit vielen passiert, Gümüşay hat es erlebt, ich selber auch: Einzelne Aussagen, Sätze oder Tweets werden aus dem Kontext gerissen, aus ihnen wird ein ganzes Gedankengut abgeleitet, eine ganze Ideologie oder Denkrichtung unterstellt (mir unterstellte man „Demokratiefeindlichkeit“, Gümüşay „Erdogan-Apologie“). Egal, was du an anderer Stelle sagst oder schreibst, ob du dich beispielsweise wie Gümüşay für Deniz Yücel einsetzt, dich in zahlreichen Tweets gegen Erdogan aussprichst oder Erdogan-kritische Texte schreibst: Der eine Satz von vor mehreren Jahren identifiziert dich angeblich als „Erdogan-Apologetin“.
Es mangelt an Fehlerkultur
Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass solche Zuschreibungen meist erfolgen, ohne dass die betroffenen Menschen selbst gefragt würden, ohne dass man ihnen die Möglichkeit gäbe auszuführen, was sie mit ihrem Satz gemeint haben könnten. Denn es geht bei der Logik des Identifikations-Prangers meist nicht ums Diskutieren, es geht nicht darum, einzelne Aussagen oder Handlungen kritisch zu diskutieren – was selbstverständlich legitim ist und zur demokratischen Debattenkultur dazu gehört.
Vielmehr geht es darum, Menschen als Repräsentant*innen zu identifizieren und haftbar zu machen für eine vermeintlichen Gruppe oder Ideologie, zum Beispiel für ‚die Frauen mit Kopftuch‘, ‚die Politisch Korrekten‘, ‚die Genderisten‘, für eine religiöse Gruppe, für ‚die Migranten‘, oder auch ‚die Islamophoben‘ oder ‚die Antisemiten‘. Wenn du erst einmal (scheinbar) identifiziert wurdest, dann bist du fortan diese Gruppe.
Was Gümüşay kritisiert ist, dass es an einer Fehlerkultur mangelt. Es sei kaum noch möglich, denkend zu suchen oder suchend zu denken. Es ist nicht erlaubt, etwas auszuprobieren, sich (zu) weit auf die Äste zu wagen, wieder zurück zu krebsen, zu straucheln, hinzufallen, zu revidieren, es erneut zu versuchen. Es wird uns – im Zuge der Digitalisierung aber auch ganz generell – die Möglichkeit von Ambiguität und Suchbewegung im Denken genommen. Denn ein einzelner Satz kann dich gesellschaftlich erledigen, dich ein für alle Mal als Repräsentantin dieser oder jener Gruppe oder Idee identifizieren – anstatt als Mensch.
Manche Menschen dürfen noch weniger Fehler machen als andere
Gümüşay fragt: Was macht das mit uns? Als Individuen, Aktivistinnen, als Gesellschaft? Was macht das mit dem ‚freien Denken‘, dem Denken überhaupt? Sie argumentiert, dass manche Menschen dem Mechanismus der umfassenden Identifizierung, Zuschreibung und Haftbarmachung mehr ausgesetzt sind als andere. Anders gesagt sind manche Menschen – mehr als andere – markiert oder vielmehr: kategorisiert. Sie gelten, ob sie wollen oder nicht, als das ‚Besondere‘, das ‚Andere‘, das ‚Spezifische‘, ‚die Abweichung‘. Zum Beispiel Frauen, zum Beispiel Menschen of Color, MigrantInnen, Geflüchtete, zum Beispiel Frauen mit Kopftuch.
Manche Menschen können sich deshalb besonders wenig ‚Fehlerkultur’ erlauben, weil sie, mehr als andere, unter Beobachtung stehen, weil sie mehr als andere beurteilt und kategorisiert, mit Vorurteilen assoziiert werden. Manche Menschen riskieren deshalb, mehr als andere, dass ein unüberlegter Satz, eine gewagte Position sie gesellschaftlich und politisch erledigt.
Und mit ihnen die Gruppe, für die sie oft unfreiwillig stehen. Denn manche Menschen gelten quasi per se als Repräsentant*innen einer bestimmten Gruppe, ihnen wird nicht oder kaum zugestanden, als Individuen auch für allgemeine Belange und Interessen der Gesellschaft zu sprechen. Sie werden, ob sie wollen oder nicht, automatisch zu Exponent*innen einer vermeintlichen Gruppe gemacht – der Migrantinnen, Schwarzen, Muslimas usw. Sie riskieren, wenn sie sich öffentlich äussern, mehr als andere, zu „Pressesprecherinnen“ (Gümüşay) einer vermeintlichen Gruppe oder Ideologie zu werden. Sie sind, mehr als andere, der Anforderung und Erwartung ausgesetzt, nicht nur eine Gruppe zu repräsentieren, sondern diese auch zu legitimieren.
Unfreiwillige „Pressesprecherinnen“
Wehe der Frau mit Kopftuch, die etwas ‚Falsches’ sagt – ihre Aussage wird sofort auch als Beweis für die Falschheit ‚des Islam‘ gewertet. Oder anders herum: Eine Frau mit Kopftuch muss, wenn sie berechtigt sein will, öffentlich zu sprechen, erst einmal beweisen, dass ‚der Islam‘, dass überhaupt Gläubigkeit legitim ist. Frauen mit Kopftuch sind zu einem derart aufgeladenen Marker geworden, dass sie kaum mehr etwas anderes repräsentieren können als Religion. Sie sind Religion, sprich deren „Pressesprecherinnen“. Während christliche bis christlich-fundamentalistische männliche Schweizer Politiker durchaus auch zu vielen anderen ‚allgemeinen‘ Themen politisieren dürfen und gehört werden.
MigrantInnen, Menschen of Color, Frauen die Kopftuch tragen usw. sind auf eine Weise markiert und ‚verandert‘, dass ihre öffentlichen Äusserungen oft als Ausdruck ‚des Islam‘ oder einer (vermeintlich) ganzen Kultur (Afrika, Asien usw.) rezipiert werden, oder als Benchmark für eine gelungene oder misslungene ‚Integration‘ derselben. Nicht gleich, aber ähnlich erleben es Frauen mit feministischen Perspektiven, wenn sie zu Repräsentantinnen ‚des Feminismus‘ oder ‚der Gender Studies‘ gemacht werden.
Der Mechanismus ist, dass manche Menschen zu Repräsentant*innen eines unterstellten und verdächtigen Kollektivs (gemacht) werden und sich dabei plötzlich in der Rolle sehen, etwas verteidigen zu müssen, in dessen Namen sie gar nie vorhatten, zu sprechen. Sie werden zu Pressesprecher*innen ‚des Islam‘, zu Beweissprecherinnen dafür, dass ‚Menschen aus anderen Ländern‘ sich integriert haben, oder dass Regenbogenfamilien ‚ein normales Leben‘ führen.
Nicht als Individuum sprechen können
Dieser ‚Pressesprecherinnen‘-Effekt hat zur Folge, dass viele Menschen nicht als Individuen sprechen können und ihr Denk-Raum immer enger wird, immer gefährlicher, weil alles, was sie sagen oder tun, als Ausdruck einer Gruppe rezipiert wird, und somit (negativ) auf diese zurückfallen könnte, diese delegitimieren, in ein schlechtes Licht rücken könnte.
Gümüşays Punkt ist, dass unter diesen Voraussetzungen vielen Menschen das freie Nachdenken und Debattieren genommen wird, weil ihnen das Recht beziehungsweise die Möglichkeit genommen wird, Fehler zu machen, sich auszuprobieren. Und sie einen grossen Teil ihrer Energie darauf verwenden, keine Fehler zu machen. Sie stehen unter einem Legitimationsdruck, unter dem sie kaum als Individuen agieren können, sondern – als Exponentinnen einer Gruppe – andauernd den Beweis für deren Existenzberechtigung erbringen müssen.
Wer einen solchen Beweis erbringen muss, kann nur verlieren. Wer in der Situation ist, jetzt mal erklären zu müssen, wie das mit ‚dem Kopftuch‘ ist, wie das mit ‚dem Feminismus‘ oder ‚der Integration‘ ist, wird in ein Machtverhältnis gezwungen, in dem er_sie sich nur abstrampeln kann – und es doch nie (gut) genug ist, nie richtig ist. Auch deshalb, weil es gar nicht gelingen kann, für eine Gruppe zu sprechen. Weil sicher morgen jemand anderes wieder etwas anderes sagt.
Wer Existenz-Rechtfertigungen erbringen muss, kann nur verlieren. Weil er_sie im Rahmen einer solchen Anspruchshaltung nicht als ernst zu nehmendes Gegenüber akzeptiert wird, sondern als eines, das sich gefälligst zu erklären, zu rechtfertigen hat. Die Anforderung der Beweisrede impliziert, dass diejenigen, die sie einfordern, bereits eine Entscheidung getroffen haben: Nämlich, dass sie sich selber nicht anstrengen müssen, sich selber nicht in andere Denkweisen, Lebensweisen und Erfahrungen hineinversetzen müssen. Sondern im Rahmen ihres eigens abgesteckten Spektrums etwas erklärt haben wollen. Und zwar ohne, dass sie sich bewegen oder verändern müssten.
Wem stehen Fehler zu, und wem nicht? Ich habe mich selber ertappt gefühlt beim Nachdenke über Fehlerkultur. Wem spreche ich sie zu? Wem nicht? Gümüşay wirft wichtige Fragen auf. Hier kann man das Interview nachhören.
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Am 22. Januar 2018 hält Kübra Gümüsay im „Feministischen Salon“ im Kosmos Zürich einen Vortrag. Eintritt frei. Türöffnung 19.30. Nähere Infos folgen.