Von Mariann Halasy-Nagy Liratni und Franziska Schutzbach
In einem Text in der NZZ vom 12.10.2017 schreibt der in der Schweiz lebende, marokkanische Schriftsteller und Aktivist Kacem El Ghazzali, das islamische Kopftuch sei ein Symbol des Patriarchats. Er kritisiert, „westliche Feministinnen“ würden das Kopftuch auf naive Weise als Symbol der Freiheit promoten. Es gebe, wie er schreibt, viele (sic!) Organisationen und Politikerinnen in Europa, die sich für Diversität einsetzen und angeblich behaupten, das Kopftuch repräsentiere die Identität muslimischer Frauen, es stehe für Frauenrechte, Freiheit und Selbstbestimmung. Dadurch würden, so El Ghazzali weiter, Frauen in arabischen Ländern verraten, die für das Recht kämpfen, keinen Schleier tragen zu müssen.
Wir möchten darlegen, weshalb El Ghazzali in seiner Argumentation problematisch vorgeht und teilweise falsche Behauptungen aufstellt:
Erstens: El Ghazzali wirft – einer klassisch antifeministischen Logik folgend – „westliche Feministinnen“ in einen Topf. Dabei legt er ihnen vermeintliche Absichten und Ziele in den Mund, die so nirgends formuliert werden und jeglicher Empirie entbehren: Uns ist in der Schweiz keine Organisation, Politikerin oder Feministin bekannt, die behauptet, das Kopftuch würde die muslimischen Frauen und deren Rechte repräsentieren. Es gibt durchaus junge Musliminnen, die u.a. auf Youtube Botschaften in diese Richtung äussern. Daraus lässt sich aber nicht schliessen, ‚viele‘ täten dies oder es sei gar Mainstream in Organisationen. Die einzige konkrete Organisation, die El Ghazzali in seinem Text erwähnt, ist JASS (Just a Simple Scarf, eine Organisation, die sich für Diversität einsetzt). Allerdings besteht diese Organisation weder einfach aus ‚westlichen Feministinnen‘ noch formuliert sie bei genauer Recherche irgendwo, dass der Schleier als Symbol für Freiheit und Frauenrechte zu werten sei. JASS hat mit El Ghazzali schon mehrfach das Gespräch gesucht, um sich darüber auszutauschen, was ihre Anliegen sind. Er ist nicht darauf eingegangen und schlägt den Austausch bis heute aus. Als weiteren Beleg für seine These verweist El Ghazzali auf den Women’s March in Washington, der auf einem Transparent eine Frau mit Kopftuch abbildete. Auch hier unterstellt El Ghazzali die Absicht, den Schleier zum Freiheits-Symbol erheben zu wollen. Verfolgt man die amerikanische Auseinandersetzung zu diesem Transparent, wird aber klar, dass die Intention des Women’s March eine andere war, nämlich Vielfalt abzubilden und zu zeigen, dass auch muslimische Frauen mit Kopftuch zu US-Amerika, zu feministischen Kämpfen gehören. Die falsche Unterstellung, man wolle das Kopftuch zum Symbol der Freiheit machen, ist leider nicht neu. In ihrer Zuspitzung wird sie oft fälschlicherweise dahingehend ausgeweitet, Feministinnen würden den Islamismus feiern.
Zweitens: Es ist problematisch und höchst unpräzis, ‚westliche Feministinnen‘ und Frauen mit Kopftuch bzw. Musliminnen einander so gegenüber zu stellen, wie es El Ghazzalis Text nahe legt. Wir leben in einer Einwanderer*gesellschaft, die realen Menschen und Biographien lassen sich auf diese Weise nicht einfach unterscheiden, Frauen mit Kopftuch können durchaus ‚westliche Feministinnen‘ sein oder umgekehrt. Vor allem aber ist es eine stark paternalistische Geste, für alle Frauen mit Kopftuch zu sprechen und zu wissen, wofür ein Schleier bei jeder Frau steht (nicht für Gleichheit, nicht für Liberalismus, wie El Ghazzali schreibt). Das macht es El Ghazzali möglich, Frauen mit Kopftuch ingesamt als eine Kampfansage an die liberalen Werte der westlichen Gesellschaften erscheinen zu lassen. Oder noch konkreter: Das Kopftuch torpediert einen von El Ghazzali definierten Liberalismus. Wer ein Kopftuch trägt, entspricht nicht den Massstäben, Vorstellungen und Konzepten von El Ghazzali (und angeblich des gesamten Westens). In solchen Aussagen kommt eine stark bevormundende, wenn nicht androzentrische Haltung zum Ausdruck (‚ich erklär den Mädels, was ihr Verhalten und ihre Klamotten wirklich bedeuten, und dass sie nicht dem Ideal des Liberalismus entsprechen). Wer so argumentiert, lässt nur eine bestimmte Variante von Liberalismus, Gleichheit, Freiheit usw. gelten. Und unterschlägt, dass gerade die (männliche) Verteidigung des Liberalismus nicht selten mit dem Ausschluss der Frauen und weiblicher Lebenswelten einherging und einhergeht.
Drittens: In Wahrheit lässt sich also nicht allgemein definieren, welche Bedeutung der Schleier für einzelne Frauen hat. Wer sie fragt, erhält extrem unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Antworten. Die gilt es zu berücksichtigen und Ernst zu nehmen, denn sie spiegeln die enorme Vielfalt der realen Lebenswelten.
Uns sind zudem kaum Feministinnen bekannt, die das Kopftuch nicht auch als Ausdruck einer patriarchalen Geschichte bewerten. Aber welche Aspekte im Leben von Frauen sind das nicht? Denken wir zum Beispiel an gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, sexuell verfügbar sein zu müssen oder eine perfekte Hausfrau oder gute Mutter. Religiöse und kulturelle Symbole und Traditionen, in denen Frauen sich bewegen, haben zum grössten Teil patriarchale Hintergründe. Das bedeutet aber nicht, dass alle Frauen, die solche Symbole verwenden oder auf bestimmte Weise leben, tatsächlich unterdrückt sind. Viele Feministinnen sprechen also davon, dass Kopftuch tragen per se nicht Unterdrückung bedeuten muss und einer freien Entscheidung zugrunde liegen kann (wie es El Ghazzali ja sogar selbst explizit formuliert). Es geht also nicht um Werbung für das Kopftuch, sondern um die Feststellung, dass viele Frauen mit Kopftuch ein selbstbestimmtes Leben führen oder gar feministische Arbeit machen.
Diese Feststellung heisst im Umkehrschluss nicht, auch dies ist eine falsche Behauptung, dass man das Kopftuch nicht für patriarchal hält oder die Kämpfe gegen erzwungene Verschleierung nicht unterstützt oder diese für unwichtig hält. Und schon gar nicht heisst es, dass der Schleier als Symbol für Freiheit gefeiert wird. Das Kopftuch wird fraglos viel zu oft aufgezwungen, aber ein Kopftuch zu tragen bedeutet noch lange nicht, gegen Freiheit zu sein. Und für manche Frauen ist es ein selbstbestimmter, gar emanzipatorischer Akt (ob uns das passt oder nicht).
Viertens: El Ghazzali unterscheidet nicht zwischen dem Tragen eines Schleiers in islamistischen Zwangssystemen wie dem Iran und dem Tragen eines Schleiers unter freiwilligen und rechtsstaatlichen Bedingungen wie in der Schweiz. Die Kämpfe von Frauen in islamistischen Regimes sind andere als hier. Der Entscheid von Frauen, hier den Hijab zu tragen, muss anders eingeschätzt werden als in autokratisch geführten Ländern, wo der Hijab obligatorisch ist. Es gibt kaum ‚westliche Feministinnen‘, die nicht Kämpfe von Frauen in arabischen Ländern unterstützten, keinen Hijab tragen zu müssen. Diese Freiheit haben wir in der Schweiz bereits; wo es trotzdem zu Zwang kommt, müssen die bestehenden Gesetze umgesetzt werden. Um es nochmal klar zu sagen: Es geht keiner Feministin darum, Systeme zu stützen, die Frauen dazu zwingen, ein Kopftuch zu tragen. Sondern darum, Wahlfreiheit zu gewährleisten und zu erweitern. Dazu gehört selbstverständlich, ein Kopftuch nicht tragen zu müssen. Zur Wahlfreiheit gehört in der Schweiz aber auch, nicht gezwungen zu werden, Kleidungsstücke auszuziehen, um als ‚selbstbestimmt’ akzeptiert zu sein. Und dazu gehört das Recht, mit Kopftuch einer Erwerbsarbeit nachgehen zu dürfen, zum Beispiel, damit Frauen nicht abhängig sind von Männern. Auch El Ghazzali ist für das Recht, ein Kopftuch tragen zu dürfen. Soweit, so einig. Das Problem ist, dass die Aussage, das Kopftuch sei keinesfalls ein Symbol der Selbstbestimmung, kaum funktioniert, ohne Frauen mit Kopftuch pauschal etwas abzusprechen.
Fünftens: Es ist es eine Strategie des Kulturkampfes und der Spaltung, ‚westlichen Feministinnen’ vorzuwerfen, sie machten alles falsch in Bezug auf das Kopftuch, in Bezug auf arabische/muslimische Frauen, und würden diese verraten. Emanzipatorische Interessen und Gruppen werden dabei als gegensätzlich konstruiert und gegeneinander ausgespielt. Diese Strategie funktioniert ähnlich wie die meist von rechts vorgetragene Anschuldigung, Linke würden sich nicht um (weisse) Arbeiter kümmern, sondern ’nur‘ um Frauen, Homosexuelle oder MigrantInnen (als ob Frauen nicht auch Arbeiterinnen wären, ArbeiterInnen nicht auch homosexuell oder migrantisch).
Auch in der NZZ war schon mehrfach zu lesen, westlicher Feminismus/Genderpolitik sei nur noch mit Gender-Identität befasst, mit übertriebener Sexismus-Kritik, Sprach-Debatten oder Queerness. Das Argument, andere hätten es schlimmer, ist ein willkommenes antifeministisches Einfallstor, das dazu dienen kann, Feminismus zu delegitimieren beziehungsweise nur eine einzige Art des Feminismus als akzeptabel zu definieren. Im Vergleich zu Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und Steinigungen ginge es ‚uns’, so das Argument, schliesslich gut. Im Vergleich zu IS-Frauen-Entführungen, das heisst im Vergleich zu Frauen mit echten Problemen sei hier doch alles erreicht. Sicher, wir haben Vieles erreicht, und selbstverständlich geht es vielen Frauen in der Schweiz besser als anderswo. Es gibt immer einen Ort, wo es Menschen noch schlechter geht. Das Problem ist, dass das Argument, es gehe anderen schlechter, erstens sich herausnimmt Frauen zu sagen, wofür sie einstehen sollen (Güzin Kar) und zweitens lassen sich damit viele Anliegen einfach abschmettern – warum Lohngleichheit? Verhindert erstmal Zwangsheirat! Wir können also den nächsten SVP-Politiker abwarten, der Gleichstellungsinstitutionen in der Schweiz abschaffen und stattdessen Musliminnen entschleiern will, weil wir angeblich das eigentliche Übel bekämpfen müssen: Den Islam.
Sechtens: Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass viele gerne und schnell auf Kulturkampf-Argumente aufspringen und die Politik der Spaltung übernehmen. Diese Spaltung hat fatale Folgen, weil sie die Meinung verstärkt, MuslimInnen gehörten nicht zu Europa und seien ein ‚Problem’ (entgegen der Tatsache, dass die Mehrheit der Muslime in der Schweiz friedlich lebt und fleissig arbeitet). Der Diskurs über das Kopftuch, wie er von El Ghazzali geführt wird, schürt diese Vorstellung weiterhin. Und er verhindert nicht zuletzt, offen darüber nachzudenken, welche Massnahmen denn nun wirklich vernünftig und geeignet sind, um gegen Islamismus anzugehen. Zum Beispiel darüber, Schweizer Banken daran zu hindern, islamistische Regime zu finanzieren und mithin die strategischen Zentren des Terrors und der Radikalisierung (wie Bernhard Schär formuliert). Oder darüber, wie Anliegen von Frauen aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung besser gehört und berücksichtig werden können und verschiedene Feministinnen zusammenarbeiten können. Darüber, eine kontrollierte und zertifizierte Ausbildung von Imamen zu ermöglichen, oder dafür zu sorgen, dass muslimische Frauen in der Schweiz gut informiert werden über ihre Rechte, und natürlich auch Pflichten. Und nicht zuletzt braucht es Forschung und die Unterstützung von Forschung: Es muss mit Forscherinnen und Forschern zusammengearbeitet werden, die zum Beispiel in muslimischen Ländern und Gesellschaften ihren Kampf führen, die Reformansätze und feministische Koran-Auslegungen voranbringen. Die natürlich auch Geschlechterbilder und Sexualität zum Gegenstand haben.
Diese Stimmen müssen gehört werden, auch hier in der Schweiz brauchen wir sie. Es gilt, Islamische Theologie, Islamwissenschaften, islambezogenes Wissen in der universitären Lehre und Forschung, aber auch als Weiterbildung für alle zu etablieren. Damit diese wichtigen Fragen eben nicht Extremisten oder Hinterhöfen überlassen bleiben, sondern mitten in der demokratischen Gesellschaft ihren berechtigten Ort bekommen. All das kostet natürlich. Und es ist einfacher, Feindbilder aufzubauen und den ‚westlichen Feministinnen‘ Absichten zu unterstellen, die sie nicht haben. Und weiterhin die pauschale islamfeindliche Stimmung anzuheizen, in der bald niemand mehr vernünftig miteinander reden kann, und auch die wichtigen interkulturellen Dialoge immer schwieriger werden (wer lässt schon mit sich reden, wenn er_sie pauschal als Feind der Freiheit abgestempelt wird?).
Siebtens: Wir kritisieren die Kulturkampf-Rhetorik, mit der El Ghazzali sich derzeit – vor allem im konkreten Text – Gehör verschafft. Denn diese wird, ob er will oder nicht, vor allem von AkteurInnen instrumentalisiert werden, die mit Sicherheit keine emanzipatorische Agenda haben. Wir haben das in den vergangenen Jahren beobachten können: solche Kulturkampf-Diskurse spielen Leuten in die Hand, die nicht Liberalismus oder Emanzipation im Sinn haben, wie El Ghazzali sich das vorstellt. Zum Beispiel Männern wie Roger Köppel, der die „Existenzberechtigung der Frauen“ darin sieht, von Männern begehrt zu werden. Oder Thomas Aeschi, der bald SVP-Fraktionschef werden könnte, ein Mann, der kein Problem damit hat, sich öffentlich über sexualisierte Gewalt an Frauen lustig zu machen. Politikern also, die zutiefst patriarchale und misogyne Ansichten haben und sich ganz sicher noch nie für die Anliegen von Frauen, für Gleichstellung eingesetzt haben.
Nein, es sind nicht ‚die westlichen Feministinnen’, die am Ende die Freiheit der Frauen verhindern. Es werden die Leute sein, die, zugespitzt formuliert, mit dem Argument der ‚unterdrückten muslimischen Frau’ an die Macht kommen, aber am Liebsten heute statt morgen Menschenrechtskonventionen aufkündigen und Gleichstellungs-Institutionen abschaffen würden. Leute, die scheinheilig ‚Frauenanliegen’ vertreten, wenn es sich für ihre politische Agenda instrumentalisieren lässt. Für harte Migrationsregime zum Beispiel, oder wenn sich damit die eigene Frauen verachtende Politik verdecken lässt. Diesen Leuten kommt es sehr gelegen, wenn El Ghazzali anhand falscher Behauptungen ‚westliche Feministinnen’ als die eigentlichen Verräterinnen der Freiheit, als das eigentliche Problem aufbaut.
***
Mariann Halasy-Nagy Liratni engagiert sich seit vielen Jahren im interreligiösen Dialog und ist als Vertreterin der Migrationsgemeincshaften im Regionalvorstand Deutschschweiz der SRG tätig.
Franziska Schutzbach ist Soziologin und Geschlechterforscherin an der Universität Basel, feministische Aktivistin, im Vorstand von Terre des Femmes Schweiz, Mitglied der Gleichstellungskommission Basel-Stadt und Mit-Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.