Das Kopftuch und die NZZ. Eine Replik auf Kacem El Ghazzali

Von Mariann Halasy-Nagy Liratni und Franziska Schutzbach

In einem Text in der NZZ vom 12.10.2017 schreibt der in der Schweiz lebende, marokkanische Schriftsteller und Aktivist Kacem El Ghazzali, das islamische Kopftuch sei ein Symbol des Patriarchats. Er kritisiert, „westliche Feministinnen“ würden das Kopftuch auf naive Weise als Symbol der Freiheit promoten. Es gebe, wie er schreibt, viele (sic!) Organisationen und Politikerinnen in Europa, die sich für Diversität einsetzen und angeblich behaupten, das Kopftuch repräsentiere die Identität muslimischer Frauen, es stehe für Frauenrechte, Freiheit und Selbstbestimmung. Dadurch würden, so El Ghazzali weiter, Frauen in arabischen Ländern verraten, die für das Recht kämpfen, keinen Schleier tragen zu müssen.

Wir möchten darlegen, weshalb El Ghazzali in seiner Argumentation problematisch vorgeht und teilweise falsche Behauptungen aufstellt:

Erstens: El Ghazzali wirft – einer klassisch antifeministischen Logik folgend – „westliche Feministinnen“ in einen Topf. Dabei legt er ihnen vermeintliche Absichten und Ziele in den Mund, die so nirgends formuliert werden und jeglicher Empirie entbehren: Uns ist in der Schweiz keine Organisation, Politikerin oder Feministin bekannt, die behauptet, das Kopftuch würde die muslimischen Frauen und deren Rechte repräsentieren. Es gibt durchaus junge Musliminnen, die u.a. auf Youtube Botschaften in diese Richtung äussern. Daraus lässt sich aber nicht schliessen, ‚viele‘ täten dies oder es sei gar Mainstream in Organisationen. Die einzige konkrete Organisation, die El Ghazzali in seinem Text erwähnt, ist JASS (Just a Simple Scarf, eine Organisation, die sich für Diversität einsetzt). Allerdings besteht diese Organisation weder einfach aus ‚westlichen Feministinnen‘ noch formuliert sie bei genauer Recherche irgendwo, dass der Schleier als Symbol für Freiheit und Frauenrechte zu werten sei. JASS hat mit El Ghazzali schon mehrfach das Gespräch gesucht, um sich darüber auszutauschen, was ihre Anliegen sind. Er ist nicht darauf eingegangen und schlägt den Austausch bis heute aus. Als weiteren Beleg für seine These verweist El Ghazzali auf den Women’s March in Washington, der auf einem Transparent eine Frau mit Kopftuch abbildete. Auch hier unterstellt El Ghazzali die Absicht, den Schleier zum Freiheits-Symbol erheben zu wollen. Verfolgt man die amerikanische Auseinandersetzung zu diesem Transparent, wird aber klar, dass die Intention des Women’s March eine andere war, nämlich Vielfalt abzubilden und zu zeigen, dass auch muslimische Frauen mit Kopftuch zu US-Amerika, zu feministischen Kämpfen gehören. Die falsche Unterstellung, man wolle das Kopftuch zum Symbol der Freiheit machen, ist leider nicht neu. In ihrer Zuspitzung wird sie oft fälschlicherweise dahingehend ausgeweitet, Feministinnen würden den Islamismus feiern.

Zweitens: Es ist problematisch und höchst unpräzis, ‚westliche Feministinnen‘ und Frauen mit Kopftuch bzw. Musliminnen einander so gegenüber zu stellen, wie es El Ghazzalis Text nahe legt. Wir leben in einer Einwanderer*gesellschaft, die realen Menschen und Biographien lassen sich auf diese Weise nicht einfach unterscheiden, Frauen mit Kopftuch können durchaus ‚westliche Feministinnen‘ sein oder umgekehrt. Vor allem aber ist es eine stark paternalistische Geste, für alle Frauen mit Kopftuch zu sprechen und zu wissen, wofür ein Schleier bei jeder Frau steht (nicht für Gleichheit, nicht für Liberalismus, wie El Ghazzali schreibt). Das macht es El Ghazzali möglich, Frauen mit Kopftuch ingesamt als eine Kampfansage an die liberalen Werte der westlichen Gesellschaften erscheinen zu lassen. Oder noch konkreter: Das Kopftuch torpediert einen von El Ghazzali definierten Liberalismus. Wer ein Kopftuch trägt, entspricht nicht den Massstäben, Vorstellungen und Konzepten von El Ghazzali (und angeblich des gesamten Westens). In solchen Aussagen kommt eine stark bevormundende, wenn nicht androzentrische Haltung zum Ausdruck (‚ich erklär den Mädels, was ihr Verhalten und ihre Klamotten wirklich bedeuten, und dass sie nicht dem Ideal des Liberalismus entsprechen). Wer so argumentiert, lässt nur eine bestimmte Variante von Liberalismus, Gleichheit, Freiheit usw. gelten. Und unterschlägt, dass gerade die (männliche) Verteidigung des Liberalismus nicht selten mit dem Ausschluss der Frauen und weiblicher Lebenswelten einherging und einhergeht.

Drittens: In Wahrheit lässt sich also nicht allgemein definieren, welche Bedeutung der Schleier für einzelne Frauen hat. Wer sie fragt, erhält extrem unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Antworten. Die gilt es zu berücksichtigen und Ernst zu nehmen, denn sie spiegeln die enorme Vielfalt der realen Lebenswelten.

Uns sind zudem kaum Feministinnen bekannt, die das Kopftuch nicht auch als Ausdruck einer patriarchalen Geschichte bewerten. Aber welche Aspekte im Leben von Frauen sind das nicht? Denken wir zum Beispiel an gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, sexuell verfügbar sein zu müssen oder eine perfekte Hausfrau oder gute Mutter. Religiöse und kulturelle Symbole und Traditionen, in denen Frauen sich bewegen, haben zum grössten Teil patriarchale Hintergründe. Das bedeutet aber nicht, dass alle Frauen, die solche Symbole verwenden oder auf bestimmte Weise leben, tatsächlich unterdrückt sind. Viele Feministinnen sprechen also davon, dass Kopftuch tragen per se nicht Unterdrückung bedeuten muss und einer freien Entscheidung zugrunde liegen kann (wie es El Ghazzali ja sogar selbst explizit formuliert). Es geht also nicht um Werbung für das Kopftuch, sondern um die Feststellung, dass viele Frauen mit Kopftuch ein selbstbestimmtes Leben führen oder gar feministische Arbeit machen.

Diese Feststellung heisst im Umkehrschluss nicht, auch dies ist eine falsche Behauptung, dass man das Kopftuch nicht für patriarchal hält oder die Kämpfe gegen erzwungene Verschleierung nicht unterstützt oder diese für unwichtig hält. Und schon gar nicht heisst es, dass der Schleier als Symbol für Freiheit gefeiert wird. Das Kopftuch wird fraglos viel zu oft aufgezwungen, aber ein Kopftuch zu tragen bedeutet noch lange nicht, gegen Freiheit zu sein. Und für manche Frauen ist es ein selbstbestimmter, gar emanzipatorischer Akt (ob uns das passt oder nicht).

Viertens: El Ghazzali unterscheidet nicht zwischen dem Tragen eines Schleiers in islamistischen Zwangssystemen wie dem Iran und dem Tragen eines Schleiers unter freiwilligen und rechtsstaatlichen Bedingungen wie in der Schweiz. Die Kämpfe von Frauen in islamistischen Regimes sind andere als hier. Der Entscheid von Frauen, hier den Hijab zu tragen, muss anders eingeschätzt werden als in autokratisch geführten Ländern, wo der Hijab obligatorisch ist. Es gibt kaum ‚westliche Feministinnen‘, die nicht Kämpfe von Frauen in arabischen Ländern unterstützten, keinen Hijab tragen zu müssen. Diese Freiheit haben wir in der Schweiz bereits; wo es trotzdem zu Zwang kommt, müssen die bestehenden Gesetze umgesetzt werden. Um es nochmal klar zu sagen: Es geht keiner Feministin darum, Systeme zu stützen, die Frauen dazu zwingen, ein Kopftuch zu tragen. Sondern darum, Wahlfreiheit zu gewährleisten und zu erweitern. Dazu gehört selbstverständlich, ein Kopftuch nicht tragen zu müssen. Zur Wahlfreiheit gehört in der Schweiz aber auch, nicht gezwungen zu werden, Kleidungsstücke auszuziehen, um als ‚selbstbestimmt’ akzeptiert zu sein. Und dazu gehört das Recht, mit Kopftuch einer Erwerbsarbeit nachgehen zu dürfen, zum Beispiel, damit Frauen nicht abhängig sind von Männern. Auch El Ghazzali ist für das Recht, ein Kopftuch tragen zu dürfen. Soweit, so einig. Das Problem ist, dass die Aussage, das Kopftuch sei keinesfalls ein Symbol der Selbstbestimmung, kaum funktioniert, ohne Frauen mit Kopftuch pauschal etwas abzusprechen.

Fünftens: Es ist es eine Strategie des Kulturkampfes und der Spaltung, ‚westlichen Feministinnen’ vorzuwerfen, sie machten alles falsch in Bezug auf das Kopftuch, in Bezug auf arabische/muslimische Frauen, und würden diese verraten. Emanzipatorische Interessen und Gruppen werden dabei als gegensätzlich konstruiert und gegeneinander ausgespielt. Diese Strategie funktioniert ähnlich wie die meist von rechts vorgetragene Anschuldigung, Linke würden sich nicht um (weisse) Arbeiter kümmern, sondern ’nur‘ um Frauen, Homosexuelle oder MigrantInnen (als ob Frauen nicht auch Arbeiterinnen wären, ArbeiterInnen nicht auch homosexuell oder migrantisch).

Auch in der NZZ war schon mehrfach zu lesen, westlicher Feminismus/Genderpolitik sei nur noch mit Gender-Identität befasst, mit übertriebener Sexismus-Kritik, Sprach-Debatten oder Queerness. Das Argument, andere hätten es schlimmer, ist ein willkommenes antifeministisches Einfallstor, das dazu dienen kann, Feminismus zu delegitimieren beziehungsweise nur eine einzige Art des Feminismus als akzeptabel zu definieren. Im Vergleich zu Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und Steinigungen ginge es ‚uns’, so das Argument, schliesslich gut. Im Vergleich zu IS-Frauen-Entführungen, das heisst im Vergleich zu Frauen mit echten Problemen sei hier doch alles erreicht. Sicher, wir haben Vieles erreicht, und selbstverständlich geht es vielen Frauen in der Schweiz besser als anderswo. Es gibt immer einen Ort, wo es Menschen noch schlechter geht. Das Problem ist, dass das Argument, es gehe anderen schlechter, erstens sich herausnimmt Frauen zu sagen, wofür sie einstehen sollen (Güzin Kar) und zweitens lassen sich damit viele Anliegen einfach abschmettern ­– warum Lohngleichheit? Verhindert erstmal Zwangsheirat! Wir können also den nächsten SVP-Politiker abwarten, der Gleichstellungsinstitutionen in der Schweiz abschaffen und stattdessen Musliminnen entschleiern will, weil wir angeblich das eigentliche Übel bekämpfen müssen: Den Islam.

Sechtens: Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass viele gerne und schnell auf Kulturkampf-Argumente aufspringen und die Politik der Spaltung übernehmen. Diese Spaltung hat fatale Folgen, weil sie die Meinung verstärkt, MuslimInnen gehörten nicht zu Europa und seien ein ‚Problem’ (entgegen der Tatsache, dass die Mehrheit der Muslime in der Schweiz friedlich lebt und fleissig arbeitet). Der Diskurs über das Kopftuch, wie er von El Ghazzali geführt wird, schürt diese Vorstellung weiterhin. Und er verhindert nicht zuletzt, offen darüber nachzudenken, welche Massnahmen denn nun wirklich vernünftig und geeignet sind, um gegen Islamismus anzugehen. Zum Beispiel darüber, Schweizer Banken daran zu hindern, islamistische Regime zu finanzieren und mithin die strategischen Zentren des Terrors und der Radikalisierung (wie Bernhard Schär formuliert). Oder darüber, wie Anliegen von Frauen aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung besser gehört und berücksichtig werden können und verschiedene Feministinnen zusammenarbeiten können. Darüber, eine kontrollierte und zertifizierte Ausbildung von Imamen zu ermöglichen, oder dafür zu sorgen, dass muslimische Frauen in der Schweiz gut informiert werden über ihre Rechte, und natürlich auch Pflichten. Und nicht zuletzt braucht es Forschung und die Unterstützung von Forschung: Es muss mit Forscherinnen und Forschern zusammengearbeitet werden, die zum Beispiel in muslimischen Ländern und Gesellschaften ihren Kampf führen, die Reformansätze und feministische Koran-Auslegungen voranbringen. Die natürlich auch Geschlechterbilder und Sexualität zum Gegenstand haben.

Diese Stimmen müssen gehört werden, auch hier in der Schweiz brauchen wir sie. Es gilt, Islamische Theologie, Islamwissenschaften, islambezogenes Wissen in der universitären Lehre und Forschung, aber auch als Weiterbildung für alle zu etablieren. Damit diese wichtigen Fragen eben nicht Extremisten oder Hinterhöfen überlassen bleiben, sondern mitten in der demokratischen Gesellschaft ihren berechtigten Ort bekommen. All das kostet natürlich. Und es ist einfacher, Feindbilder aufzubauen und den ‚westlichen Feministinnen‘ Absichten zu unterstellen, die sie nicht haben. Und weiterhin die pauschale islamfeindliche Stimmung anzuheizen, in der bald niemand mehr vernünftig miteinander reden kann, und auch die wichtigen interkulturellen Dialoge immer schwieriger werden (wer lässt schon mit sich reden, wenn er_sie pauschal als Feind der Freiheit abgestempelt wird?).

Siebtens: Wir kritisieren die Kulturkampf-Rhetorik, mit der El Ghazzali sich derzeit – vor allem im konkreten Text – Gehör verschafft. Denn diese wird, ob er will oder nicht, vor allem von AkteurInnen instrumentalisiert werden, die mit Sicherheit keine emanzipatorische Agenda haben. Wir haben das in den vergangenen Jahren beobachten können: solche Kulturkampf-Diskurse spielen Leuten in die Hand, die nicht Liberalismus oder Emanzipation im Sinn haben, wie El Ghazzali sich das vorstellt. Zum Beispiel Männern wie Roger Köppel, der die „Existenzberechtigung der Frauen“ darin sieht, von Männern begehrt zu werden. Oder Thomas Aeschi, der bald SVP-Fraktionschef werden könnte, ein Mann, der kein Problem damit hat, sich öffentlich über sexualisierte Gewalt an Frauen lustig zu machen. Politikern also, die zutiefst patriarchale und misogyne Ansichten haben und sich ganz sicher noch nie für die Anliegen von Frauen, für Gleichstellung eingesetzt haben.

Nein, es sind nicht ‚die westlichen Feministinnen’, die am Ende die Freiheit der Frauen verhindern. Es werden die Leute sein, die, zugespitzt formuliert, mit dem Argument der ‚unterdrückten muslimischen Frau’ an die Macht kommen, aber am Liebsten heute statt morgen Menschenrechtskonventionen aufkündigen und Gleichstellungs-Institutionen abschaffen würden. Leute, die scheinheilig ‚Frauenanliegen’ vertreten, wenn es sich für ihre politische Agenda instrumentalisieren lässt. Für harte Migrationsregime zum Beispiel, oder wenn sich damit die eigene Frauen verachtende Politik verdecken lässt. Diesen Leuten kommt es sehr gelegen, wenn El Ghazzali anhand falscher Behauptungen ‚westliche Feministinnen’ als die eigentlichen Verräterinnen der Freiheit, als das eigentliche Problem aufbaut.

***

Mariann Halasy-Nagy Liratni engagiert sich seit vielen Jahren im interreligiösen Dialog und ist als Vertreterin der Migrationsgemeincshaften im Regionalvorstand Deutschschweiz der SRG tätig.

Franziska Schutzbach ist Soziologin und Geschlechterforscherin an der Universität Basel, feministische Aktivistin, im Vorstand von Terre des Femmes Schweiz, Mitglied der Gleichstellungskommission Basel-Stadt und Mit-Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.

 

„Ich kann euch alle haben.“ Maskulinitätsideologien und Rechtsnationalismus

Frauenverachtung ist ein zentraler Antrieb rechtsnationaler Strömungen. Ich habe gemeinsam mit Michelle Lanwehr eine Analyse zur Radikalisierung junger Männer geschrieben:

Pick-Up-Artists und antifeministischer Männerrechtsaktivismus sind eine bislang zu wenig beachtete Triebkraft neu-rechter Bewegungen. Lag der Fokus von Analysen zur neuen Rechten bisher vor allem auf Rassismus und Migrationsfeindlichkeit, wird jetzt zunehmend deutlich, dass Antifeminismus, Frauenverachtung und maskulistische Ideologien ebenfalls zentral, ja häufig der Ausgang für rechtsnationale Radikalisierung sind.

Das Glas ist halb voll

Meine Lieblingsthese in Bezug auf den Rechtsrutsch ist, an guten Tagen, dass er unter anderem eine Reaktion auf progressive Entwicklungen ist: WEIL Minderheiten und Frauen* lauter geworden sind, sich zeigen, mitreden, Dinge fordern, gibt es so heftige Reaktionen. Der Ruf nach Re-Traditionalisierung, der zunehmende Antifeminismus, Anti-Gender und die aufkeimenden rassistischen und ausländerfeindlichen Ressentiments und Attacken, das Abwatschen einer angeblichen Political Correctness, die Forderung nach starken nationalen Grenzen oder Grenzen im Kopf sind ein Zeichen dafür, dass alte Gewissheiten tatsächlich ins Wanken geraten sind. Das weisse Hetero-Patriarchat liegt in den letzten Zügen, auch die letzten Hinterwäldler realisiert gerade, dass Einwanderungsgesellschaft und ‚Multikulti’ ausgemachte Tatsachen sind.

Wie sich zeigt, ist das nicht ungefährlich, denn es wird aggressiv dagegen gehalten. Das Pendel schlägt derzeit, machen wir uns nichts vor, hart zurück. Wie das alles ausgeht ist, angesichts des beängstigenden Erfolges autokratischer Politikstile (Trump, Putin, AfD, SVP usw.), überhaupt nicht ausgemacht. Die neuste alte Strategie ist, Minorisierte gegeneinander auszuspielen: Politisch korrekte Feministinnen, die „Homolobby“, Migrant*innen usw. seien Schuld am Rechtsrutsch, an den Wutbürgern (die Wahrheit ist: die Rechten sind Schuld am Rechtsrutsch – sowie ihre pseudo-liberalen Gehilfen und zündelnden Feuilletonist*innen). Behauptet wird, elitäre Queers oder People of Color hätten die Arbeiter*innen vergessen. Als ob Arbeiter*innen nicht auch Frauen*, queer oder of color wären. Man spielt eine angeblich „harte Realität“ gegen scheinbare „Luxusprobleme“ von Frauen* oder LGBTI+ gegeneinander aus. Der weisse Arbeiter habe eben echte Probleme, im Gegensatz zu den doofen Frauen*.

Natürlich gibt es in emanzipatorischen Bewegungen oder Gesellschaftskritiken auch Dogmatismus, oder sagen wir Übereifer – wo gibt es das nicht. Der Verweis auf vereinzelte, möglicherweise überzogene Anliegen – meistens werden diese Anliegen allerdings auch falsch dargestellt – wird derzeit genüsslich als Pappkamerad aufgebaut, als Sündenbock, um die Vision einer tatsächlich pluralen und gerechten Gesellschaft insgesamt zu diskreditieren.

Das ist Boshaftigkeit, und weil es Boshaftigkeit und nicht Diskussionsbereitschaft ist, können wir sagen, was wir wollen: Es wird von vielen ohnehin (absichtlich) missverstanden. Wie Laurie Penny schreibt: Egal, was ich sage, es wird als übertrieben und hysterisch gebrandmarkt. Völlig logische und vernünftige Argumente für soziale Veränderung werden zur Zielscheibe von Beschimpfungen. Da können wir auch gleich sagen, was wir wirklich denken, ohne beständig darauf zu achten, ob das die Befindlichkeit aller auch wirklich berücksichtigt – und uns dabei selbst kleinzumachen, unsere Sehnsucht dem anzupassen, was gerade noch als passend durchgeht.

Machen wir also weiter, weiter, weiter. Nutzen wir jede Bühne (naja nicht ganz, aber fast!), jedes Mikrophon, jede Kolumne, jedes Podium, jede Demonstration, jeden Hashtag, Parlamente oder Parteien. Lasst uns keine Angst davor haben, etwas falsch zu machen, weil wir das sowieso machen (gegen Boshaftigkeit kommt man wie gesagt nicht an). Es geht nicht darum, diejenigen zu überzeugen, die bereits reaktionär denken, bereits von Ressentiments getrieben sind. Vielmehr geht es darum, für diejenigen sichtbar und hörbar zu sein, die noch offen, noch unentschlossen sind, die sich gerade erst politisieren, aufwachen. Diejenigen, die unser Unbehagen an der Welt teilen, aber noch keine Worte dafür haben. Und am meisten geht es darum, auch hier nochmal mit Penny gesprochen: füreinander laut zu sein, „die Geplagten zu stärken“, und ja, natürlich: die Reaktionären zu plagen, und ihnen Redezeit wegzunehmen.

Denn das ist es, wovor ihnen graut. Es ist unsere Lautstärke und unsere Angstlosigkeit, die sie fürchten. Und sie haben Recht. Die Welt verändert sich grundlegend, wenn all diese „anderen“ plötzlich mitreden, wenn wir nicht mehr die Ausnahmen, die Freaks an den Rändern der Gesellschaft sind, sondern zur ‚Normalität’ werden, dazu gehören. Also lasst es uns doch gleich laut aussprechen: Es geht um mehr als um die Verteidigung von Grundrechten und von Verfassungsaufträgen, es geht um mehr als ‚gleich’ sein zu dürfen wie die bisherige ‚Norm’, es geht um mehr als darum, auch ein wenig mitmachen zu dürfen. Es geht um die Veränderung der Mehrheitsgesellschaft, der Norm selbst. Kurzum: Es geht um eine grundlegende Umverteilung von Einfluss und Ressourcen.

Sagen wir es doch laut: Wenn zum Beispiel queere Lebensweisen dereinst wirklich als gleichwertig gelten, werden womöglich viele ‚Schrankschwule’ plötzlich ihre queere Seite entdecken. Wenn Queerness eine gleichwertige Lebensweise ist, wird die Gesellschaft natürlich – oh schreck! – homosexualisiert. Sagen wir es laut: Es werden dann viel mehr Menschen den Mut haben und frei sein, verschiedene sexuelle Seiten an sich zu entdecken und auszuprobieren. Und das ist doch, was wir wollen. Auch die so genannte „Feminsierung der Männer“ ist genau, was wir wollen. Wir haben ein riesengrosses Problem mit toxischen Männlichkeits-Idealen, mit männlicher Gewalt. Es kann gar nicht genug ‚Feminisierung‘ geben, will heissen: Es kann gar nicht genug Veränderung in Richtung Empathie, Vulnerabilität, Fürsorge usw. geben. Wir können uns gar nicht weit genug entfernen von tradierten Männlichkeits- Phantasmen wie dem rücksichtslosen Streben nach Überlegenheit und Macht, die im schlimmsten Fall in schrecklicher Gewalt münden.

Das Geschrei von rechts – und oft genug auch aus der liberalen Mitte – gegen Political Correctness und vieles andere ist auch eine Reaktion auf unsere Lautstärke und auf die real vorhandene Möglichkeit, dass die Welt dereinst nicht mehr vor allem reich, weiss und männlich regiert ist. Unsere vielen lauten Stimmen und unsere vielen verschiedenen Gesichter sind der Alptraum der Herrschenden. Also zeigen wir uns! Mit dem Risiko, angegriffen zu werden. Aber wir haben mittlerweile Unterstützungsnetzwerke, um dies aufzufangen, um gegen den Hass vorzugehen (zum Beispiel Netzcourage).

Und diejenigen, die keine Kraft haben, die Self-Care brauchen, sich selbst schützen müssen oder wollen vor Anfeindungen: Auch das ist legitim, Selbstschutz ist wichtig. Viele kämpfen ja schon lange – nicht erst seit dem so genannten Rechtsrutsch. Sich zurück lehnen, ausruhen ist wichtig. Und deshalb ist es umso entscheidender, dass Allies (Verbündete) den Mund aufmachen, dass sie sich ins Zeug legen, wie Amina richtig schreibt. Meistens sind wir ja beides, betroffen von Marginalisierung und privilegiert zugleich. Als weisse Frau bin ich von Sexismus betroffen, aber nicht von Rassismus. Ich kann mich – als Verbündete – gegen Rassismus aussprechen, ohne dafür rassistische Anfeindungen zu riskieren.

Lasst uns also nicht nur von den eigenen Belangen, Problemen und Sorgen ausgehen, sondern immer auch Verbündete sein und unsere Kanäle und unseren Einfluss nutzen, um auf Frauen*, Queers, Menschen of color, Menschen mit Behinderung, Trans*menschen, Migrant*innen und deren Projekte, Anliegen und Kritiken zu verweisen. Seien wir Multiplikator*innen. Multiplikator*innen des Minorisierten. Damit all das lauter und sichtbarer wird als die SVP, AfD oder die NZZ.

Alle sind nun gefragt, die herrschenden Bezugssysteme zu verschieben und andere sichtbar zu machen. Es braucht natürlich Analysen der AfD oder SVP, deren Dekonstruktion oder gar juristisches Vorgehen. Aber nicht Bühnen. Wir sollten nicht nochmal oder nur minim die Glarners oder die Blochers oder die Weidels skandalisieren, wir sollten solchen Leuten möglichst wenig Sichtbarkeit geben. Sondern eben anderen.

Wir haben nichts anderes als diese „verrottete Gegenwart“, auf die wir unsere Sehnsucht und unsere Energie verwenden können. Also let’s go. Nehmen wir sie uns.

Worte statt Taten?

Jetzt werden Sie doch mal konkret! Überlegungen zum (feministischen) Aktivismus

 

Ich muss mich immer wieder mit dem Vorwurf auseinandersetzen, ich würde mich nicht konkret genug engagieren, oder: meine feministische Kritik und Analyse würden doch an den realen Verhältnissen nichts ändern. Oder ich werde gefragt, wie das, was ich da sage, überhaupt in der Praxis umgesetzt werden könnte. Welche konkreten Lösungen es für ein Problem gibt, auf das ich verweise. Das sind ja alte Fragen, ich bin nicht die Erste, die sich hier immer wieder gewissermassen in die Ecke gedrängt fühlt.

Ich habe ein recht breiteres Politikverständnis. Für mich passiert das ‚Politische‘ nicht erst im Moment eines parlamentarischen Beschlusses, einer Gesetzesrevision, der Eröffnung eines Frauenhauses, der Einführung von Quoten, oder einer konkreten Umverteilung von Ressourcen. Ich denke, dass all diese wichtigen, so genannt konkreten Dinge überhaupt erst geschehen, wenn eine Gesellschaft, wenn Menschen dafür auch in ihrem Denken bereit sind. Und dafür braucht es viel Vor-Arbeit am Symbolischen, an der kulturellen Ordnung. Dafür braucht es Verschiebungen in der Wahrnehmung, im Bewusstsein der Menschen. Ohne diese Verschiebungen oder Bewusstseinsveränderungen passiert in der Praxis letztlich wenig, oder es passiert nicht grundlegend genug.

Diskursive Interventionen und Auseinandersetzung – und damit verbunden Veränderungen im Denken – sind meines Erachtens entscheidend für die Herstellung von Gerechtigkeit, für gesellschaftspolitische Veränderungen. Oder anders gesagt: Veränderungen im Denken SIND bereits Teil der so genannten konkreten Veränderung. Ich wende mich entschieden dagegen, das Denken, Kritisieren oder Analysieren und das Konkrete überhaupt zu trennen. ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ können nicht getrennt werden. Solche Trennungen werden oft konstruiert, um das Denken, das Utopische, das Kritische abzuwürgen. Um dem ‚Konkreten‘, dem Praktischen einen Vorrang zu attestiern. Tatsächlich gibt es aber kaum Praxis ohne Theorie. Die Praxis ist immer auch Theorie bzw. Wissens geleitet oder entsteht in einem engen Wechselverhältnis mit Wissen. Genauso, wie auch aus dem Handeln wiederum neue Erkenntnisse und Gedanken enstehen. Die Ebenen sind nicht trennbar.

Ich halte diese Abwertung des Diskurses, die Ablehnung der ‚Arbeit am Bewusstsein‘, wie sie mir in der Schweiz besonders stark scheint, für kontraproduktiv. Es wird schnell gesagt: Das ist dieses elitäre Elfenbeinturmgetue. Dabei wird eben vergessen, dass (emanzipatorische) Praxis ganz entscheidend mit dem Erkennen und Benennen von Herrschaftsverhältnissen einhergeht. Vergessen geht auch, dass das Formulieren von Kritik ganz und gar nicht nur ein akademisches Projekt ist, sondern im Gegenteil, oft ‚von unten‘ kommt. Es sind ja nicht selten marginalisierte Menschen, die ihre Erfahrungen Jahrzehnte lang artikulieren, die ein kritisches Wissen aufbauen und ins Bewusstsein der Gesellschaft bringen, ein Wissen, auf das sich konkrete Gesetze oder Handlungsweisen eben dann beziehen, das diese überhaupt möglich macht.

Ich finde es teilweise wirklich beschämend, wie sehr die „Taten“ den „Worten“ hierarchisch gegenüber gestellt werden. Womöglich zeigt sich darin auch eine ‚patriarchale‘ Logik? In einer Rezension des Films „Suffragette“, der den Kampf der Suffragetten in England um das Frauen-Wahlrecht zeigt, kritisiert Antje Schrupp die Glorifizierung der revolutionären Tat: Der Film richte seinen Fokus gänzlich auf den Slogan „Taten statt Worte“. Schrupp argumentiert, dass damit nahe gelegt werde, das Stimmrecht sei durch Militanz und (tödliche) Selbstaufopferung einzelner Kämpderinnen möglich geworden. Andere Länder, in denen die Stimmrechtsbewegung nicht militant war, haben das Stimmrecht aber zur selben Zeit auch bekommen wie England, teilweise sogar früher. Schrupp fragt: Waren die ‚Taten‘ dieser Frauen (Selbstmord, Verlieren des Sohnes, gesundheitliche Schäden usw.) tatsächlich sinnvoll und notwendig für den Erfolg des Anliegens? Oder wurde hier ein (männlicher) Heldenmythos auf die Frauenbewegung übertragen?

Kurzum: Bevor das Stimmrecht erfolgreich war, gab es viele Jahre der argumentativen Auseinandersetzungen, in denen Frauen deutlich machten, dass sie keine minderwertigen Menschen sind. Dass sie ebenfalls politische Bürgerinnen sein können und wollen. Die Idealisierung der „Tat“ folgt einer Logik, die nicht berücksichtigt, wie viel vor einer ‚Revolution‘ oder einer Veränderung bereits mit Worten gekämpft wurde, wie sehr sich das Bewusstsein verändern musste, damit am Ende das Stimmrecht möglich wurde.

Ich kann mir emanzipatorische Veränderungen jedenfalls ohne die Veränderung von Bewusstsein kaum vorstellen. Eine Gesellschaft, die ein Gesetz oder ein Recht zu verabschieden bereit ist, hat bereits einen Bewusstseinsprozess durchlaufen, in dem über viele Jahre mit Worten gekämpft wurde.