Männliche Selbstkritik ist möglich

Im Film „Captain Fantastic“ (Matt Ross) geht es um einen erstaunlichen Anti-Helden und die Vision, dass radikale Selbst-Kritik einen nicht zerstören muss. 

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Ben Cash (gespielt von Viggo Mortensen) ist ein Aussteiger, er lebt mit seinen sechs Kindern (sie sind zwischen 6 und 18 Jahren) seit vielen Jahren abseits der Zivilisation im Wald. Dort haben sie eine Art Jurte-Dorf gebaut. Ben möchte die Kinder zu freien, selbständig denkenden, starken Menschen erziehen, die verbunden sind mit der Natur und mit sich selbst. Er ist ein strenger und idealistischer Lehrer, neben dem täglichen Körpertraining und der Jagd lesen die Kinder Klassiker der Weltliteratur, Theorie (Marx, Chomsky usw.), büffeln Menschenrechte, musizieren und führen Gespräche über konsensuelle Sexualität.

Ich fand vor allem die Entwicklung der Vater-Figur interessant, und eng damit zusammen hängend die Narration über Männlichkeit. In „Captain Fantastic“ geht es um die Hinterfragung ‚männlicher‘ Handlungsmacht. Zum Beispiel den Anspruch, absolut sicher zu wissen, was für andere oder die Welt gut sei.

Ben ist im Film durchaus sympathisch, gleichzeitig stellt sich die Frage: Instrumentalisiert er die Kinder für seine eigenen Vorstellungen? Ist das, was er für richtig hält, auch für die Kinder gut? Die Kinder machen mit, es regt sich jedoch auch Widerborstigkeit. Ben integriert die Widerstände gekonnt, fordert die Kids auf, zu debattieren, ihre Stimmen sind wichtig. Es geht ihm um Gleichberechtigung und Individualität. Fest steht aber auch: Dass es ein Abhängigkeitsverhältnis, ein Machtgefälle gibt. Es sind eben Kinder, und er der Vater.

Die Kinder lernen, ihren Standpunkt zu vertreten, eigene Perspektiven zu entwickeln, sie wissen alles über klassische Musik, über soziale Gerechtigkeit, das Überleben im Wald und gegenseitige Rücksichtnahme. Nur wissen sie nichts über die so genannte richtige Welt („du hast mich zu einem Freak gemacht!“, wirft der älteste Sohn dem Vater später vor).

In den ersten Filmminuten wird klar, dass es auch eine abwesende Mutter, Leslie, gibt (Trin Miller). Diese ist seit drei Monaten in einer psychiatrischen Klinik. Sie leidet an biopolarer Störung. Hier wird deutlich, dass es um Männlichkeit geht, denn die Besetzung könnte nicht umgekehrt sein, es geht um Bens Rolle als Mann: Er ist der Starke, so etwas wie ein Clan-Anführer, während seine Frau die Position der Schwachen, der Kranken hat. Diese zunächst klischierte Rollenverteilung macht es möglich, eine Geschichte männlicher Dekonstruktion und Selbst-Kritik zu erzählen.

Zurück zum Plot: Ben und Leslie sind damals – vor vielen Jahren – auch deshalb in den Wald gegangen, weil beide hofften, es würde Leslie dort besser gehen. Mit der Zeit wird klar, dass diese Idee gescheitert ist. Leslie ging es nicht besser. Was im ersten Teil des Filmes dazu führt, dass sie sich in der Klink das Leben nimmt. Für Vater und Kinder beginnt ein Trauerprozess. Sie machen sich auf zur Beerdigung, was auch auf eine Konfrontation mit der so genannten „real World“ hinausläuft. Im Verlauf der Reise entsteht der Vorwurf (formuliert durch Verwandte und eines der Kinder), Ben habe seine Frau ‚umgebracht‘, weil er an einer fixen Ideen festgehalten habe. Die Einsamkeit im Wald habe Leslie geschadet.

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Bei Ben setzt nun eine Art Katharsis ein. Zwar scheint er zunächst überzeugt von seiner Mission, aber bald kommen Zweifel. Vor allem in dem Augenblick, in dem eine seiner Töchter sich schwer verletzt und beinahe stirbt, weil Ben sie in Gefahr gebracht hat. Ben konfrontiert sich nun mit dem Gedanken, dass er vielleicht falsch gehandelt hat. Dass das Leben, das er mit den Kindern und seiner Frau lebte, vielleicht nicht für alle gut war und ist. Bald gesteht er sogar vor den Kindern, dass er es eigentlich wusste: während er an seiner Idee festhielt, wusste er gleichzeitig, dass es nicht funktioniert, dass es seiner Frau dadurch nicht besser ging. Er war – trotz besseren Wissens – besessen von der Idee, es müsste gut sein.

Ben ist damit konfrontiert, die Kontrolle zu verlieren, seine Handlungsmächtigkeit und Selbstsicherheit. Überrascht hat mich die Darstellung schonungsloser männlicher Selbstkritik, die Bereitschaft, die eigenen Fehler und Irrtümer zu sehen und einzugestehen.Ich habe das so noch nie gesehen im Film (und in der ‚Wirklichkeit‘ auch nicht). Normalerweise werden männliche Selbstzweifel, Schwäche oder Kontrollverlust – wenn überhaupt – auf eine Weise gezeigt, die die betreffenden Männer letztlich wieder zu Helden stilisiert. Oder aber sie bleiben gescheiterte, einsam-neurotische Figuren, die mit ihren Problemen irgendwie durchs Lebens segeln, oder mit irgendwelchen Ersatz-Souveränitäten durchkommen.

Ben wird anders gezeichnet. Er sieht sein Scheitern und möchte es wieder gut machen, indem er – auch das ist überraschend – Hilfe von Verwandten annimmt. Und zwar ausgerechnet die Hilfe von seinen Schwiegereltern, mit denen er zuvor in tiefem ideologischem Streit stand, die ihn auch ablehnen. Ben springt über seinen Schatten, über sein (männliches) Ego und seinen Stolz, er nimmt die Hilfe – natürlich nicht konfliktfrei – an. Er reagiert auf sein Scheitern nicht mit Verhärtung, nicht mit der trotziger Abwehr des gescheiterten Helden, vielmehr akzeptiert er den Souveränitätsverlust und geht den Bezug zur Welt der ‚anderen‘ ein.

Es ist aber auch die tiefe Beziehung zu den Kindern, die seine Selbst-Dekonstruktion nicht ins Bodenlose fallen lässt. Und die ihm zeigt: Er hat nicht alles falsch gemacht. Er muss ein anderer werden, aber nicht ein vollkommen anderer. Es sind die Kinder, die ihn am Ende dazu auffordern, sich ein Stück weit treu zu bleiben. Auch das ist eine ungewöhnliche Narration über eine männliche Entwicklung: Es ist die tiefe Verstrickung mit anderen, die das Selbst infrage stellt, und es zugleich auffängt. Es ist paradoxerweise das Leben durch die anderen, das es Ben ermöglicht, auch er selber zu bleiben.

Am Ende lebt die Familie in einem kleinen Haus, zurück in der Zivilisation. Die Kinder besuchen öffentliche Schulen, der älteste Sohn geht an die Uni. Ben lebt mit seiner ‚Schuld‘, mit den Fehlern, es geht ein Bruch durch ihn hindurch, die Dinge lassen sich nicht zurechtbiegen. Er versucht, ohne Selbsttäuschungen weiterzuleben. Das ist unbequem, anstrengend und schmerzhaft. Man bekommt dafür keine Medaillen. Gleichzeitig zerstört es ihn auch nicht. Ben ist am Ende weder ein Held noch gescheitert, sondern ein Mensch, der versucht, Verantwortung zu übernehmen. Und dafür etwas Wichtiges bekommt: Echte und tiefe Beziehungen zu Menschen.

Für mich zeichnet der Film eine Art utopisch-hoffnungsvolle Vision, in dem die kritische Reflexion von Männlichkeitskonzepten möglich ist. Und Männer keine Angst haben müssen, dadurch zerstört zu werden.

Burka: „Verteidigung der Republik“ oder Kulturrelativismus?

Die Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter fordert die Verteidigung der „Republik“ gegen alles angeblich Fremde, weil sonst der Kulturrelativismus drohe. Diese Alternative ist falsch: es geht um die Verringerung von Leid – und um die Kritik an Verhältnissen, die Leiden befördern.

(Der folgende Beitrag erschien zuerst auf  „Geschichte der Gegenwart“, eine kultur- und geisteswissenschaftliche Plattform mit Beiträgen zur öffentlichen Debatte. Ich bin dort seit kurzem Mit-Herausgeberin. Wer die vielfältigen und spannenden Beiträge regelmässig mitverfolgen möchte, kann die Seite unten rechts im gelben Feld per Mail abonnieren).

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Wenn ich die Werte der Republik verteidige, darf man mich ruhig als muslim­feindlich beschimpfen.“ Diese Aussage stammt von der bekannten franzö­si­schen Feministin und Philo­sophin Elisabeth Badinter, sie sagte dies kürzlich in einem breit rezipierten Interview zur Burka. Die Aussage hat mich seither beschäftigt. Und andere auch. Auf der Wall eines Facebook-Kollegen wurde disku­tiert, welche Art der Republik bzw. des Univer­sa­lismus es denn eigentlich zu vertei­digen gälte – den franzö­si­schen, den briti­schen? Ich fand diese Diskussion befremdlich, weil hier auch von linker (und männlicher) Seite deutlich wurde, dass es offenbar um die Vertei­digung von politi­schen Ideen, nicht aber um konkrete Frauen geht. Es ist wohl das, was geschieht, wenn man Badinters Diskussions-Ebene akzep­tiert: Dass nicht die Inter­essen von Frauen im Zentrum stehen, sondern Frauen zur Munition in einer Ausein­an­der­setzung, zu politi­schen Symbolen einer Polemik werden.

Badinter ist sicher keine Rechts­na­tionale, gerade deshalb ist ihre Position gut angekommen. Selbst jene, die die Burka nicht verbieten wollen, sehen sich offenbar durch Badinter bestätigt, dass es irgend­etwas zu vertei­digen gilt. Sie sehen sich in ihrer diffusen Wahrnehmung bestärkt, dass es aktuell darum geht, klar Position zu beziehen, darum, einen Massstab zu finden dafür, was geht und was nicht.

Eine schiefe Debatte

Im Kern zeigt sich hier eine alte Ausein­an­der­setzung, nämlich die Frage, inwiefern zur Aufrecht­erhaltung bestimmter menschen­recht­licher Prämissen bestimmte kultu­relle Praktiken einge­schränkt werden sollen. Die streng univer­sa­lis­tische Position – die auch Badinter einnimmt – bedeutet, dass allgemein gültige Werte festgelegt werden müssen: ein menschen­recht­licher Massstab, an dem alle Menschen und Kulturen einer Gesell­schaft sich ausrichten müssen, an dem deren Handeln beurteilt und ggf. einge­schränkt wird. Dem gegenüber plädiert der so genannte Kultur­re­la­ti­vismus dafür, kultu­relle Eigen­heiten nicht an einem allge­meinen Massstab zu messen, sondern vielmehr situativ, das heisst basierend auf dem Werte­system der jewei­ligen Kultur selbst zu beurteilen.

Es ist irritierend, wie in den letzten Wochen im Zuge einer vorschnellen und unsorg­fäl­tigen Meinungs­bildung die Vorstellung vertieft wurde, univer­selle Menschen­rechte seien mit Kultur­re­la­ti­vismus unver­einbar. Mit der Folge, dass auch progressive Wortmel­dungen sich gross­spurig auf der Ebene der Ideen-Verteidigung bewegten, anstatt zu fragen, was die Frauen, um die es geht, konkret wollen oder brauchen.

Ich glaube, für das trans­kul­tu­relle Debat­tieren und Zusam­men­leben ist es enorm wichtig zu verstehen, dass Univer­sa­lismus und die Orien­tierung am Parti­ku­laren sich nicht unbedingt ausschliessen. Die Polito­login und Ethno­login Janne Mende hat dazu ein kluges Buch geschrieben. Sie fragt, auf welche Weise und aus welchen Gründen die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung/Genitalbescheidung abgelehnt werden kann und muss – ohne dabei ‚kultur­im­pe­ria­lis­tisch‘ zu sein. Man kann diese Frage auch auf die Burka übertragen.

Univer­sa­lismus vs. Kultur­re­la­ti­vismus?

Mende schlägt vor, Univer­sa­lismus und Kultur­re­la­ti­vismus nicht gegen­ein­ander, sondern mitein­ander zu denken. Natürlich haben auch andere solche Ansätze entwi­ckelt. Mende besticht aber durch ihren Anspruch, reflexiv vorzu­gehen, das heisst, ihre eigene Situiertheit kritisch zu reflek­tieren und damit auch die Begrenztheit ihrer Überle­gungen. Weiter fällt sie kein abstraktes Urteil, sondern geht kontext­sen­sibel vor, das heisst sie verhandelt Genital­ver­stüm­melung (Exzision) so nahe wie möglich an der empiri­schen Lebenswelt betrof­fener Frauen. Ich werde hier nicht die Frage der Exzision disku­tieren, sondern versuchen, einige von Mendes konzep­tio­nellen Überle­gungen zusam­men­zu­tragen. Meine Hoffnung ist, damit etwas zu grund­sätz­lichen Fragen des trans­kul­tu­rellen Zusam­men­lebens beizu­steuern.

Zunächst arbeitet Mende heraus, warum die Kritik an so genannten „anderen“ Kulturen nicht per se kultur­im­pe­ria­lis­tisch ist. Und zwar deshalb, weil es diese angeblich „Anderen“ so gar nicht gibt. Die Unter­scheidung zwischen dem „Eigenen“ und den „Anderen“, das „wir“ und „sie“, ist eine Konstruktion. Die Vorstellung einer Grenze zwischen Westlichem und Nicht-Westlichem, überhaupt die Vorstellung homogener, stati­scher, abgeschlos­sener, vonein­ander unter­schie­dener ‚Kultur­kreise’ oder kultu­reller Identi­täten ist falsch. Vielmehr sind die Menschen und Kulturen auf dieser Welt geschichtlich inein­ander verwoben, unauf­lösbar verzahnt. Trans­kul­tu­ra­lität ist Realität. Und deshalb ist auch trans­kul­tu­relle Kritik möglich.

Trotzdem sind Eurozen­trismus oder Kultur­im­pe­ria­lismus eine Gefahr. Vor allem dann, wenn univer­sa­lis­tische Haltungen nicht kritisch reflek­tiert, wenn im Namen von höheren Werten bestimmte Ideen und Normen prokla­miert oder zwangs­ver­ordnet werden. Einem solchen Univer­sa­lismus geht es letztlich um die Vorherr­schaft (mögli­cher­weise ‚nur‘ einer Idee) und nicht um die Vermin­derung von konkretem Leid. Aber auch verkürzte kultur­re­la­ti­vis­tische Argumen­ta­tionen bergen Probleme, etwa dann, wenn der Massstab, mit dem eine bestimmte Praxis beurteilt wird, nicht über den konkreten kultu­rellen Zusam­menhang eben dieser Praxis hinausgeht. Und zum Beispiel argumen­tiert wird, Exzision diene der notwen­digen Identi­täts­findung. Dadurch erhalten Sitten und Bräuche eine Art dogma­ti­schen Status der Unver­än­der­barkeit; das Problem ist, dass auf diese Weise auch repressive Praktiken legiti­mierbar werden.

Mende kommt zum Schluss, dass einer­seits kein allge­meiner Massstab für Emanzi­pation oder Freiheit gesetzt werden kann. Man kann niemandem eine bestimmte Vorstellung von Freiheit aufzwingen. Freiheit kann nicht abstrakt, sondern immer nur in Bezug zu konkreten Lebens­welten, das heisst in Bezug auf ökono­mische, politische, soziale usw. Bedingt­heiten und Handlungen disku­tiert werden. Gleich­zeitig reicht es aber nicht, wenn der Massstab für die Beurteilung einer bestimmten Praxis im empirisch Gegebenen verhaftet bleibt. Ein Massstab, der sich nur affir­mativ am Gegebenen orien­tiert, vermag nicht über dieses hinaus­zu­gehen, hin zu etwas, das besser sein könnte. Ihm fehlt die Kraft zur emanzi­pa­to­ri­schen Verän­derung. Und die Kraft, Leid auch dann nicht auszu­blenden, wenn eine Praxis freiwillig geschieht.

Verrin­gerung von Leid

Mende plädiert dafür, die Stärken sowohl des Univer­sa­lismus als auch des Kultur­re­la­ti­vismus zu nutzen, das heisst sie möchte sowohl das Anliegen, etwas normativ und allgemein zu definieren, als auch die Orien­tierung am Konkreten, am Parti­ku­laren zum Ausgangs­punkt machen. Eine Stärke der univer­sellen Menschen­rechte ist Mende zufolge, dass sie das Ziel formu­lieren, Leid zu verringern. Sie schlägt vor, dieses Ziel zum Ausgangs­punkt für univer­sa­lis­tische Massstäbe zu machen. Die Verrin­gerung von Leid hält sie für den sinnvol­leren Massstab als beispiels­weise ein allge­meiner Massstab für Freiheit.

Es stellt sich natürlich die Frage, inwiefern „Leid“ allgemein definiert werden kann. Auch Leid ist ein voraus­set­zungs­reicher Paramter, dessen Voran­nahmen hinter­fragt werden müssen. Mende zufolge kommen wir aber grund­sätzlich nicht darum herum, Parameter zu definieren. Auch deshalb, weil eine Gesell­schaft ohnehin nie frei von Werten und Massstäben ist. Besser also, wir gehen damit offensiv um. Das Ziel muss sein, reflek­tierte Massstäbe zu entwi­ckeln, solche, die sich ihrer Begrenztheit bewusst sind.

Wenn wir uns also daran orien­tieren, Leid zu verringern – und das ist doch das Ziel der Menschen­rechte –, folgt daraus, so Mende weiter, dass wir Vorstel­lungen von Emanzi­pation entwi­ckeln müssen, und seien sie noch so vage. Anders gesagt: Zur Verrin­gerung von Leid braucht es normative Vorstel­lungen darüber, wie es anders, wie es besser sein könnte. Für die Ablehnung oder Abschaffung einer bestimmten Praxis bedeutet das aller­dings, dass Ideen nicht ohne die Berück­sich­tigung der konkreten Lebens­welten formu­liert werden können. Die vielfäl­tigen Begrün­dungen einer bestimmten Praxis müssen erforscht werden, die Funktion für konkrete Menschen muss bekannt sein.

Erst die kultur­re­la­ti­vis­tische Erfor­schung der Lebens­rea­li­täten von Frauen, ihren Bedürf­nissen, Handlungs­weisen und spezi­fi­schen Kontexten bietet eine Grundlage dafür, erfolg­reiche, nicht-repressive Strategien zu entwi­ckeln. Strategien, die nicht bloss über die „Vertei­digung der Republik“ sinnieren, sondern betroffene Frauen und ihre Lebens­welten berück­sich­tigen und dabei gleichwohl eine unhin­ter­gehbare Vermin­derung von Leiden gewähr­leisten.

Sowohl Univer­sa­lismus als auch Kultur­re­la­ti­vismus sind für sich genommen also ungenügend. Es ist vielmehr so, dass das eine durch das andere überhaupt erst Sinn und Kraft bekommt. Mende scheut nicht davor zurück, einen Massstab einzu­fordern, das heisst normative Bezugs­punkte zu definieren und damit eine Art ‚emanzi­pa­to­ri­schen Mehrwert‘. Sie geht hier über andere Mittelweg-Vorschläge hinaus, die oft einseitig fordern, Menschen­rechte primär kontext- und praxis­be­zogen auszu­for­mu­lieren. Das Problem solcher Mittelwege ist, dass sie mangels univer­seller Massstäbe im Konfliktfall schwammig sind und kaum konkrete Regelungen erzielen können.

Der gänzliche Verzicht auf einen Masstab funktio­niert also nicht. Gleichwohl muss klar sein, dass es sich niemals um statische, abgeschlossene Formeln handeln kann. Eine Regelung kann jeweils für einen spezi­fi­schen Moment allge­meine Wahrheit und Gültigkeit beanspruchen. Denn zwischen dem norma­tiven Anspruch auf etwas Besseres und dem empirisch Gegebenen besteht eine Spannung. Wir können uns nicht mit dem einmal Erreichten begnügen und müssen die Gefahr reflek­tieren, dass eine Regelung selbst zur repres­siven Strategie werden kann.

Nicht zuletzt: selbst wenn sich die gesetz­liche Abschaffung einer bestimmten Praxis als sinnvoll erweist, ist eine ausschliess­liche Sanktio­nierung in jedem Fall unzurei­chend. Kultu­relle Praktiken – auch die repres­sivsten – lassen sich nicht einfach aus sozialen und politi­schen Zusam­men­hängen heraus­lösen. Bei einem reinen Verbot würden repressive Mecha­nismen und (Geschlechter-)Ungleichheiten bestehen bleiben. Es braucht so oder so zusätzlich Strategien, die betrof­fenen Frauen Möglich­keiten in die Hand geben, sich selbst gegen repressive Struk­turen einzu­setzen.

 

 

 

Verschleiert oder verblendet?

GASTBEITRAG

Die bekannte französische Feministin und Soziologin Elisabeth Badinter hat sich in einem Interview zur Burka-Frage geäussert. Das Gespräch wurde in der Schweiz breit rezipiert.

Eine Replik von Charlotte Heer Grau

Am Wochenende erschien in verschiedenen Zeitungen das Interview der Journalistin Martina Meister mit der französischen Soziologin Elisabeth Badinter, unter Titeln wie „Burkini am Nizza-Strand ist Gipfel der Unhöflichkeit“ in der „Welt“, „Die Burka geht derzeit nicht“ im „Tages-Anzeiger“, „Es zeigt, wir sind am Ende“ auf dem Online Portal vom „Tages-Anzeiger“ oder „Die Burka geht im Moment einfach nicht“ im „Bund“. Der Tages-Anzeiger teaserte das Interview auf der Frontseite mit „Feministin Badinter fordert Burkaverbot“.

Badinter ist eine prominente intellektuelle Stimme in Frankreich und hat sich – ähnlich wie Alice Schwarzer in Deutschland – in der Vergangenheit immer wieder gegen den Islamismus und zur Frage der Verschleierung geäussert. Badinter steht für Laizismus, Menschenrechte und ist klar für eine gesetzliche Kleiderregelung. Ihre Positionen zur aktuellen Debatte haben am Wochenende auch in der Schweiz erheblich Aufmerksamkeit erhalten. Im Interview spricht die Feministin über die Angst, die in Frankreich seit den verschiedenen Anschlägen vorherrschend ist und plädiert dezidiert dafür „die Werte der Republik zu verteidigen“.

Natürlich ist die Angst in Frankreich nachvollziehbar. Dennoch möchte ich im Folgenden einige Äusserungen von Badinter diskutieren, die – gerade aus dem Mund einer Wissenschaftlerin – doch recht spekulativ und problematisch anmuten.

Schon mit ihrer ersten Antwort irritiert die Soziologin, wenn sie – ohne empirische Quellen – behauptet: „Denn diese Frauen tragen den Burkini, nicht weil sie unsichtbar sein, sondern weil sie auffallen wollen.“ Die Journalistin fragt nicht nach und man darf mit gutem Grund daran zweifeln, dass es diesbezüglich Untersuchungen gibt. So bleibt die Frage: „Who the hell is she, to know, what other people think?“

Badinters Behauptung ist interessant, weil Musliminnen eine Art Boshaftigkeit zugeschrieben wird. Während verschleierte Frauen sonst oft als handlungsunfähig und unterdrückt dargestellt werden, zeigt sich hier eine Verschiebung: Diese Frauen tun das mit Absicht! Eine Sichtweise, die vermutlich deshalb besticht, weil muslimische Frauen auf diese Weise nicht als unterdrückt gelten müssen, um entschleiert zu werden. Sie erhalten den Status politischer – in Badinters Worten: „unhöflicher“ – Akteurinnen, die sich mit ihrer Kleidung gezielt gegen die Werte der Republik wenden. Ein Burka-Verbot ist somit nicht primär zum Wohl der ‚armen’ Frauen, sondern notwendig für die Republik, für die Verteidigung von etwas Grösserem.

Extrem widersprüchlich wird Badinter, wenn sie über die Emanzipation muslimischer Frauen sagt: „Die Wende muss von innen kommen. Alles, was von aussen kommt, wird die Spaltung der Gesellschaft nur verstärken.“ Sie sagt also selbst: Was von aussen aufgesetzt wird, bringt nicht viel. Warum die Forderung nach Kleidergesetzen dann Sinn machen soll, fragt die Journalistin nicht und wird nicht weiter vertieft. Der grösste Brocken aber ist meines Erachtens jene Redewendung, die wir von Rechtsaussen kennen: „Wir wollen keine Parallelgesellschaften“. Badinter müsste wissen, dass dieses Bild eine leere, breit instrumentalisierbare Hülse ist, denn: Sind die Banlieus in französischen Grossstädten etwa entstanden, weil Zuwanderer_innen unbedingt in diese schmutzigen, verlotterten Vororte ziehen wollten? Oder hat das nicht vielleicht doch mehr mit politischen, gesellschaftlichen und städtebaulichen Prämissen zu tun? Oder mit dem französischen Bildungssystem? Und was ist mit der französischen Elite? Ist das etwa keine Parallelgesellschaft? Kann es sein, dass Soziologinnen ab einer bestimmten Einkommensklasse einfach nicht mehr klar sehen?

Die Journalistin spricht auch die Debatte in der Schweiz an. Unterschlägt aber den wichtigen Unterschied, dass es in der Schweiz kaum Frauen gibt, die sich vollverschleiern. Badinter gibt prompt eine höchst unwissenschaftliche Antwort: „Man braucht doch wirklich nur einen Funken gesunden Menschenverstand, um einzusehen, dass die Burka im Augenblick nicht geht.“ Ich kann mit dieser Antwort so gut wie nichts anfangen. Möchte sie mit dem Bezug auf den gesunden Menschenverstand etwa ernsthaft behaupten, alle Menschen an allen Orten dieser Welt könnten zu dieser Frage aktuell zum selben Schluss kommen? Und wer, wenn nicht eine Soziologin müsste wissen, dass es beinahe nichts gibt, was so sehr abhängig ist von Zeit und Umständen wie der „gesunde Menschenverstand“? Wer, wenn nicht eine Soziologin sollte wissen, dass das, was in einer Gesellschaft spontan von allen ‚gewusst wird’, also der Common Sense, sicher nicht auch zwangsläufig das Beste ist?

Ich habe 1995, 2001 und 2010 im Iran Interviews mit vielen Frauen zu diesem Thema geführt. Mit Frauen, die sich das Kopftuch sofort vom Kopf reissen würden, wenn sie nur könnten. Mit Frauen, die ihren Kopf und alles, was irgendwie an Frau erinnern könnte, bedeckt haben wollen, weil sie das so wollen. Eine dieser Frauen sagte mir, das Verbot, ohne Bedeckung in die Öffentlichkeit zu gehen, sei grundsätzlich falsch und nicht religiös bedingt. Wenn Frauen die Haare verstecken würden, nur weil das ein Gesetz sei, sei dies wie eine Maskerade, das Verbot müsse abgeschafft werden. Aber: Unisono bekam ich auch die Antwort, wir sollten doch bitte endlich aufhören mit dieser Kopftuchfrage. Die Iranerinnen hätten andere Probleme, dieses sei das kleinste. – Heute gibt es viele junge Frauen, vorab in den Grossstädten, die mit diesem Gesetz „spielen“, es bewusst ausreizen und die Sittenpolizei provozieren (siehe auch Parsua Bashi, Briefe aus Teheran, Kein&Aber).

Tatsache ist: 1936 verbot Reza Schah Pahlavi, der Vater des letzten Schahs, den Perserinnen das Tragen des Kopftuchs oder Tschadors – von einem Tag auf den andern. Für viele Frauen war das eine elementare Befreiung. Für tief religiöse Frauen aber kam dieses Verbot einem Hausarrest gleich. Sie wollten oder durften nicht mehr aus dem Haus.  – Nach dem Sturz des Vaters, hob Sohn Mohammad Reza 1941 dieses Verbot auf. Die Frauen konnten herumlaufen, wie sie wollten. Eine Frau sagte mir dazu: „Immer sind es die Männer, die uns vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben.“

1979 – die Geschichte kennen wir – befiehlt Chomeini die Kopfbedeckung im öffentlichen Raum und den Tschador für Frauen im öffentlichen Dienst. Heute haben sich die Regeln etwas gelockert. Das unsägliche Verbot ist immer noch da, aber wer den Iran bereist, sieht, wie in den Grossstädten Frauen sich mit sehr viel Kreativität um Verbote foutieren und die Sittenpolizei gerne provozieren. Wer weiter in die Berge reist, wird auf Stämme treffen, wo einem Frauen stolz entgegentreten, mit ihren dunklen, langen, offen Haaren. Stämme, wie die Kashgai, die sich all die Jahre einen Deut um die Verbote der Regierung in Teheran kümmern.

Das heisst nicht, dass alles gut ist, mitnichten. Die menschenrechtliche Situation ist zuweilen prekär. Aber es zeigt: die Menschen und insbesondere die Frauen aus dem Mittleren Osten sind nicht nur arme, dumme, unterdrückte Wesen. Viele kämpfen an allen möglichen Fronten für ihre Rechte und für die Menschenrechte.

Dies führt mich zurück zur Situation und Debatte in der Schweiz. Das Interview mit Badinter trägt nicht zur Aufhellung ungeklärter Fragen bei, alles wurde schon genau so zum wiederholten Mal gesagt. Auch der hundertste Versuch, das Thema aus der rechten Ecke zu holen, lässt die entscheidende Frage ausser Acht: Kann es der richtige Weg sein, Frauen vorzuschreiben, was sie tragen oder nicht tragen sollen? Ich bin der Meinung: Nein. Frauen sollen selber entscheiden, was sie wollen. Niemand hat ihnen vorzuschreiben, was sie zu tun haben. Ihre Ehemänner nicht. Und schon gar nicht die PolitikerInnen. Kleidervorschriften für Frauen zu erlassen, ist mehr als ein Ritzen an Grundrechten. Ein Verbot wäre ein enormer Rückschritt.

Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang auch die Haltung der Organisation humanrights.ch. Sie schrieb Mitte August: „Doch die Pointe ist, dass es bei dieser Volksinitiative gar nicht um die Sache geht, sondern um die Inszenierung einer emotional aufgeladenen politischen Auseinandersetzung im öffentlichen Raum. Deshalb ist das wichtigste Argument gegen die Volksinitiative zum Verhüllungsverbot nicht sachlicher, sondern politischer Natur: Weil zu dieser an sich unwichtigen Frage im Rahmen des Abstimmungskampfes eine grosse öffentliche Debatte laufen wird, ist das politische Drehbuch klar: Jene politischen Kräfte, die ihre Popularität teilweise der Angstmacherei vor „dem Fremden“ verdanken, werden sich diese Chance nicht entgehen lassen, um die muslimfeindliche Stimmung im Lande weiter anzuheizen. Die Vorlage wird dann als Symbol für eine Haltung dienen, die das Land weiter entzweit.“

Die Entzweiung ist leider in vollem Gang. Aber jede und jeder, die_der das immer gleiche Argument hochhält, sie_er möchte dem Gegenüber ins Gesicht schauen können, empfehle ich, wieder einmal Tram oder Bus zu fahren, durch die Strassen zu laufen und zu schauen, wieviele Menschen einem ins Gesicht schauen.

Die einen mögen einen Schleier aus Stoff tragen, der ihnen die klare Sicht trübt, die anderen tragen aber offenbar einen Schleier der Verblendung. Hört also auf mit diesem Klamauk. Und wenn – dies habe ich von einem Facebook-Kollegen gestohlen: „Und wenn ihr über ein Stück Stoff streiten wollt, dann nicht über Frauen in Burkas, sondern über Men in Suits!“

Charlotte Heer Grau, (Jg. 1954) ist Publizistin in Zürich.

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