Burka: „Verteidigung der Republik“ oder Kulturrelativismus?

Die Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter fordert die Verteidigung der „Republik“ gegen alles angeblich Fremde, weil sonst der Kulturrelativismus drohe. Diese Alternative ist falsch: es geht um die Verringerung von Leid – und um die Kritik an Verhältnissen, die Leiden befördern.

(Der folgende Beitrag erschien zuerst auf  „Geschichte der Gegenwart“, eine kultur- und geisteswissenschaftliche Plattform mit Beiträgen zur öffentlichen Debatte. Ich bin dort seit kurzem Mit-Herausgeberin. Wer die vielfältigen und spannenden Beiträge regelmässig mitverfolgen möchte, kann die Seite unten rechts im gelben Feld per Mail abonnieren).

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Wenn ich die Werte der Republik verteidige, darf man mich ruhig als muslim­feindlich beschimpfen.“ Diese Aussage stammt von der bekannten franzö­si­schen Feministin und Philo­sophin Elisabeth Badinter, sie sagte dies kürzlich in einem breit rezipierten Interview zur Burka. Die Aussage hat mich seither beschäftigt. Und andere auch. Auf der Wall eines Facebook-Kollegen wurde disku­tiert, welche Art der Republik bzw. des Univer­sa­lismus es denn eigentlich zu vertei­digen gälte – den franzö­si­schen, den briti­schen? Ich fand diese Diskussion befremdlich, weil hier auch von linker (und männlicher) Seite deutlich wurde, dass es offenbar um die Vertei­digung von politi­schen Ideen, nicht aber um konkrete Frauen geht. Es ist wohl das, was geschieht, wenn man Badinters Diskussions-Ebene akzep­tiert: Dass nicht die Inter­essen von Frauen im Zentrum stehen, sondern Frauen zur Munition in einer Ausein­an­der­setzung, zu politi­schen Symbolen einer Polemik werden.

Badinter ist sicher keine Rechts­na­tionale, gerade deshalb ist ihre Position gut angekommen. Selbst jene, die die Burka nicht verbieten wollen, sehen sich offenbar durch Badinter bestätigt, dass es irgend­etwas zu vertei­digen gilt. Sie sehen sich in ihrer diffusen Wahrnehmung bestärkt, dass es aktuell darum geht, klar Position zu beziehen, darum, einen Massstab zu finden dafür, was geht und was nicht.

Eine schiefe Debatte

Im Kern zeigt sich hier eine alte Ausein­an­der­setzung, nämlich die Frage, inwiefern zur Aufrecht­erhaltung bestimmter menschen­recht­licher Prämissen bestimmte kultu­relle Praktiken einge­schränkt werden sollen. Die streng univer­sa­lis­tische Position – die auch Badinter einnimmt – bedeutet, dass allgemein gültige Werte festgelegt werden müssen: ein menschen­recht­licher Massstab, an dem alle Menschen und Kulturen einer Gesell­schaft sich ausrichten müssen, an dem deren Handeln beurteilt und ggf. einge­schränkt wird. Dem gegenüber plädiert der so genannte Kultur­re­la­ti­vismus dafür, kultu­relle Eigen­heiten nicht an einem allge­meinen Massstab zu messen, sondern vielmehr situativ, das heisst basierend auf dem Werte­system der jewei­ligen Kultur selbst zu beurteilen.

Es ist irritierend, wie in den letzten Wochen im Zuge einer vorschnellen und unsorg­fäl­tigen Meinungs­bildung die Vorstellung vertieft wurde, univer­selle Menschen­rechte seien mit Kultur­re­la­ti­vismus unver­einbar. Mit der Folge, dass auch progressive Wortmel­dungen sich gross­spurig auf der Ebene der Ideen-Verteidigung bewegten, anstatt zu fragen, was die Frauen, um die es geht, konkret wollen oder brauchen.

Ich glaube, für das trans­kul­tu­relle Debat­tieren und Zusam­men­leben ist es enorm wichtig zu verstehen, dass Univer­sa­lismus und die Orien­tierung am Parti­ku­laren sich nicht unbedingt ausschliessen. Die Polito­login und Ethno­login Janne Mende hat dazu ein kluges Buch geschrieben. Sie fragt, auf welche Weise und aus welchen Gründen die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung/Genitalbescheidung abgelehnt werden kann und muss – ohne dabei ‚kultur­im­pe­ria­lis­tisch‘ zu sein. Man kann diese Frage auch auf die Burka übertragen.

Univer­sa­lismus vs. Kultur­re­la­ti­vismus?

Mende schlägt vor, Univer­sa­lismus und Kultur­re­la­ti­vismus nicht gegen­ein­ander, sondern mitein­ander zu denken. Natürlich haben auch andere solche Ansätze entwi­ckelt. Mende besticht aber durch ihren Anspruch, reflexiv vorzu­gehen, das heisst, ihre eigene Situiertheit kritisch zu reflek­tieren und damit auch die Begrenztheit ihrer Überle­gungen. Weiter fällt sie kein abstraktes Urteil, sondern geht kontext­sen­sibel vor, das heisst sie verhandelt Genital­ver­stüm­melung (Exzision) so nahe wie möglich an der empiri­schen Lebenswelt betrof­fener Frauen. Ich werde hier nicht die Frage der Exzision disku­tieren, sondern versuchen, einige von Mendes konzep­tio­nellen Überle­gungen zusam­men­zu­tragen. Meine Hoffnung ist, damit etwas zu grund­sätz­lichen Fragen des trans­kul­tu­rellen Zusam­men­lebens beizu­steuern.

Zunächst arbeitet Mende heraus, warum die Kritik an so genannten „anderen“ Kulturen nicht per se kultur­im­pe­ria­lis­tisch ist. Und zwar deshalb, weil es diese angeblich „Anderen“ so gar nicht gibt. Die Unter­scheidung zwischen dem „Eigenen“ und den „Anderen“, das „wir“ und „sie“, ist eine Konstruktion. Die Vorstellung einer Grenze zwischen Westlichem und Nicht-Westlichem, überhaupt die Vorstellung homogener, stati­scher, abgeschlos­sener, vonein­ander unter­schie­dener ‚Kultur­kreise’ oder kultu­reller Identi­täten ist falsch. Vielmehr sind die Menschen und Kulturen auf dieser Welt geschichtlich inein­ander verwoben, unauf­lösbar verzahnt. Trans­kul­tu­ra­lität ist Realität. Und deshalb ist auch trans­kul­tu­relle Kritik möglich.

Trotzdem sind Eurozen­trismus oder Kultur­im­pe­ria­lismus eine Gefahr. Vor allem dann, wenn univer­sa­lis­tische Haltungen nicht kritisch reflek­tiert, wenn im Namen von höheren Werten bestimmte Ideen und Normen prokla­miert oder zwangs­ver­ordnet werden. Einem solchen Univer­sa­lismus geht es letztlich um die Vorherr­schaft (mögli­cher­weise ‚nur‘ einer Idee) und nicht um die Vermin­derung von konkretem Leid. Aber auch verkürzte kultur­re­la­ti­vis­tische Argumen­ta­tionen bergen Probleme, etwa dann, wenn der Massstab, mit dem eine bestimmte Praxis beurteilt wird, nicht über den konkreten kultu­rellen Zusam­menhang eben dieser Praxis hinausgeht. Und zum Beispiel argumen­tiert wird, Exzision diene der notwen­digen Identi­täts­findung. Dadurch erhalten Sitten und Bräuche eine Art dogma­ti­schen Status der Unver­än­der­barkeit; das Problem ist, dass auf diese Weise auch repressive Praktiken legiti­mierbar werden.

Mende kommt zum Schluss, dass einer­seits kein allge­meiner Massstab für Emanzi­pation oder Freiheit gesetzt werden kann. Man kann niemandem eine bestimmte Vorstellung von Freiheit aufzwingen. Freiheit kann nicht abstrakt, sondern immer nur in Bezug zu konkreten Lebens­welten, das heisst in Bezug auf ökono­mische, politische, soziale usw. Bedingt­heiten und Handlungen disku­tiert werden. Gleich­zeitig reicht es aber nicht, wenn der Massstab für die Beurteilung einer bestimmten Praxis im empirisch Gegebenen verhaftet bleibt. Ein Massstab, der sich nur affir­mativ am Gegebenen orien­tiert, vermag nicht über dieses hinaus­zu­gehen, hin zu etwas, das besser sein könnte. Ihm fehlt die Kraft zur emanzi­pa­to­ri­schen Verän­derung. Und die Kraft, Leid auch dann nicht auszu­blenden, wenn eine Praxis freiwillig geschieht.

Verrin­gerung von Leid

Mende plädiert dafür, die Stärken sowohl des Univer­sa­lismus als auch des Kultur­re­la­ti­vismus zu nutzen, das heisst sie möchte sowohl das Anliegen, etwas normativ und allgemein zu definieren, als auch die Orien­tierung am Konkreten, am Parti­ku­laren zum Ausgangs­punkt machen. Eine Stärke der univer­sellen Menschen­rechte ist Mende zufolge, dass sie das Ziel formu­lieren, Leid zu verringern. Sie schlägt vor, dieses Ziel zum Ausgangs­punkt für univer­sa­lis­tische Massstäbe zu machen. Die Verrin­gerung von Leid hält sie für den sinnvol­leren Massstab als beispiels­weise ein allge­meiner Massstab für Freiheit.

Es stellt sich natürlich die Frage, inwiefern „Leid“ allgemein definiert werden kann. Auch Leid ist ein voraus­set­zungs­reicher Paramter, dessen Voran­nahmen hinter­fragt werden müssen. Mende zufolge kommen wir aber grund­sätzlich nicht darum herum, Parameter zu definieren. Auch deshalb, weil eine Gesell­schaft ohnehin nie frei von Werten und Massstäben ist. Besser also, wir gehen damit offensiv um. Das Ziel muss sein, reflek­tierte Massstäbe zu entwi­ckeln, solche, die sich ihrer Begrenztheit bewusst sind.

Wenn wir uns also daran orien­tieren, Leid zu verringern – und das ist doch das Ziel der Menschen­rechte –, folgt daraus, so Mende weiter, dass wir Vorstel­lungen von Emanzi­pation entwi­ckeln müssen, und seien sie noch so vage. Anders gesagt: Zur Verrin­gerung von Leid braucht es normative Vorstel­lungen darüber, wie es anders, wie es besser sein könnte. Für die Ablehnung oder Abschaffung einer bestimmten Praxis bedeutet das aller­dings, dass Ideen nicht ohne die Berück­sich­tigung der konkreten Lebens­welten formu­liert werden können. Die vielfäl­tigen Begrün­dungen einer bestimmten Praxis müssen erforscht werden, die Funktion für konkrete Menschen muss bekannt sein.

Erst die kultur­re­la­ti­vis­tische Erfor­schung der Lebens­rea­li­täten von Frauen, ihren Bedürf­nissen, Handlungs­weisen und spezi­fi­schen Kontexten bietet eine Grundlage dafür, erfolg­reiche, nicht-repressive Strategien zu entwi­ckeln. Strategien, die nicht bloss über die „Vertei­digung der Republik“ sinnieren, sondern betroffene Frauen und ihre Lebens­welten berück­sich­tigen und dabei gleichwohl eine unhin­ter­gehbare Vermin­derung von Leiden gewähr­leisten.

Sowohl Univer­sa­lismus als auch Kultur­re­la­ti­vismus sind für sich genommen also ungenügend. Es ist vielmehr so, dass das eine durch das andere überhaupt erst Sinn und Kraft bekommt. Mende scheut nicht davor zurück, einen Massstab einzu­fordern, das heisst normative Bezugs­punkte zu definieren und damit eine Art ‚emanzi­pa­to­ri­schen Mehrwert‘. Sie geht hier über andere Mittelweg-Vorschläge hinaus, die oft einseitig fordern, Menschen­rechte primär kontext- und praxis­be­zogen auszu­for­mu­lieren. Das Problem solcher Mittelwege ist, dass sie mangels univer­seller Massstäbe im Konfliktfall schwammig sind und kaum konkrete Regelungen erzielen können.

Der gänzliche Verzicht auf einen Masstab funktio­niert also nicht. Gleichwohl muss klar sein, dass es sich niemals um statische, abgeschlossene Formeln handeln kann. Eine Regelung kann jeweils für einen spezi­fi­schen Moment allge­meine Wahrheit und Gültigkeit beanspruchen. Denn zwischen dem norma­tiven Anspruch auf etwas Besseres und dem empirisch Gegebenen besteht eine Spannung. Wir können uns nicht mit dem einmal Erreichten begnügen und müssen die Gefahr reflek­tieren, dass eine Regelung selbst zur repres­siven Strategie werden kann.

Nicht zuletzt: selbst wenn sich die gesetz­liche Abschaffung einer bestimmten Praxis als sinnvoll erweist, ist eine ausschliess­liche Sanktio­nierung in jedem Fall unzurei­chend. Kultu­relle Praktiken – auch die repres­sivsten – lassen sich nicht einfach aus sozialen und politi­schen Zusam­men­hängen heraus­lösen. Bei einem reinen Verbot würden repressive Mecha­nismen und (Geschlechter-)Ungleichheiten bestehen bleiben. Es braucht so oder so zusätzlich Strategien, die betrof­fenen Frauen Möglich­keiten in die Hand geben, sich selbst gegen repressive Struk­turen einzu­setzen.

 

 

 

1 Kommentar

  1. Genau dieser Gedanke, unterschiedliche Modelle aufzustellen die weder als allgemein gültige, unanfechtbare Wahrheiten gelten (in bestimmten Kulturkreisen) oder als spezifische Regelungen von Einzelfällen ausgelegt sind sondern sich an der Verbesserung des Wohl und Verringerung des Leidens in der Problemregion orientieren fand ich auch sehr einleuchtend in dem Vortrag gestern über Antigenderismus. In welcher Form und in welchen Bereichen der Kultur sehen Sie dort das Entwicklungspotenzial? Liebe Grüsse R

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