In Verteidigung der Gegenwart

„Ach meine Liebe / du glaubst zu viel / Kannst du nur leben / Wenn du was glaubst? / Ich glaube gar nichts / Und lebe immer noch. / Ich lebe immer noch / Ich lebe immer lieber / Ich liebe immer wieder / Ich liebe immer lieber / Ich glaube gar nichts.“ (Christina Thürmer-Rohr)

 

Liberale und Linke – falls solche Kategorien noch taugen – sind derzeit erschrocken, ja überrascht darüber, dass der Faschismus auch im 21. Jahrhundert noch möglich scheint. Hilflos schauen wir zu, wie sich neue rechtspopulistische Hegemonien bilden, wie autoritäre Weltanschauungen wieder Zulauf erhalten. Kommentatoren verkünden „das Ende des liberalen Zeitalters“ (Constantin Seibt). Oder reden von einem „Backlash“ – als wäre all das lediglich ein Rückschritt oder Misstritt auf dem ansonsten richtigen Pfad in die Zukunft. Als wäre ein solches „liberales Zeitalter“ für eine Mehrheit der Menschen jemals real, geschweige denn realistisch gewesen. Seit Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten jedenfalls herrscht Verwunderung über die Endlichkeit scheinbarer Selbstverständlichkeiten.

Es ist wichtig, erschrocken zu sein. Aber wir müssen auch darüber nachdenken, was dieses Erschrecken bedeutet: Was hatten wir gehofft? Was erwartet? Worin hatten wir uns gesonnt? Mit dem jüdisch-deutschen Philosophen Walter Benjamin liesse sich sagen, dass wir vielleicht erschrocken sind, weil die derzeitigen Entwicklungen ein bestimmtes, bis heute verbreitetes Geschichtsverständnis erschüttern, nämliche die Vorstellung, die Geschichte der Menschheit sei ein kontinuierlicher Fortschrittsprozess. Und in der Zukunft warte die Erlösung. Hatten wir insgeheim – und trotz besseren Wissens – gehofft, alles würde immer besser, oder habe gar einen „Endzweck“ (Hegel)? Falls dem so ist, wird diese Hoffnung derzeit schwer erschüttert. Und es stellt sich die Frage, wie oft wir eigentlich noch bösen erwachen wollen.

Benjamin betrachtete Fortschrittsgläubigkeit als grosses Hindernis für eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die in den Köpfen vieler Menschen verbreitete „progressive Doktrin“ richte sich vor allem auf die Zukunft, auf das „erst noch Kommende“. In der Fortschrittserzählung habe die „Jetztzeit“, also die Gegenwart den Status einer Vorstufe, des ‚Noch nicht’, sie erscheine deshalb als unwichtig und könne immer wieder aufs Neue vertagt werden. Anders ausgedrückt: Wenn der Massstab der Entwicklung das Paradies in der Zukunft ist, ist die Gegenwart unweigerlich ungenügend, ja ein Betrug an diesem Paradies. Eben eine Enttäuschung. Und mithin unwichtig.

Zwar sind, seit Benjamin seine Gedanken formulierte, Jahrzehnte vergangen. Die Begrenztheit der Fortschrittsideologie und ihr Zerstörungspotential haben sich seither immer wieder deutlich gezeigt. Trotzdem hat sich die Fortschrittserzählung hartnäckig gehalten. Vermutlich deshalb, weil die Hoffnung auf eine Befreiung in der Zukunft eine bürgerliche Haltung ist. Oder wie Benjamin es formuliert: Die Fortschrittserzählung ist das Geschichtsverständnis der Herrschenden. Mit ihr lässt sich nicht nur die Gegenwart vertagen, sondern auch die Vergangenheit leugnen. Geleugnet werden kann zum Beispiel, dass der Reichtum und die kulturelle Dominanz der einen oft ein Erbe sind, das auf der Unterwerfung von anderen beruht.

Oder anders gesagt: Eine Fortschrittserzählung kann keine ‚Altlasten’ mitnehmen, sie muss die Toten der Vergangenheit hinter sich lassen. Fortschrittsgläubigkeit ist geschichtsvergessen, sie hegt den Wunsch, die Vergangenheit möge ein für allemal überwindbar sein und weigert sich, mit dem Erbe der Vergangenheit umzugehen. Die bürgerliche Fortschrittserzählung ist deshalb auch eurozentrisch und androzentrisch. Nicht nur, weil häufig allein ‚der Westen’ und Männer als treibende Kraft von Entwicklung und Fortschritt, überhaupt von Geschichte imaginiert werden, während aussereuropäische Gesellschaften und Frauen im „Warteraum der Geschichte“ (Dipesh Chakrabarty) verweilen, ja im Prinzip gar keine Geschichte haben. Sondern auch deshalb, weil die dem westlichen Fortschrittsprojekt inhärente koloniale Expansion, Gewalt und patriarchale Unterdrückung verdrängt werden. Mit dem Ergebnis, dass Unterdrückung und Ausbeutung auch in der Gegenwart fortgesetzt werden können. Die Gewaltökonomien der Gegenwart werden in der „progressiven Doktrin“ nicht als ein Kontinuum historisch gewachsener Asymmetrien und Herrschaftsverhältnisse verstanden, sondern sie erscheinen lediglich als geschichtslose ‚Reste‘ oder ‚Ausrutscher‘.

Die feministische Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr schätzt die Lage viele Jahre später in ihrem Essay „Abscheu vor dem Paradies“ (1989) ähnlich ein und plädiert für eine Verabschiedung vom „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch). Denn Hoffnung, das sei lediglich die Rechtfertigung der Barbarei, eine Flucht vor dem Monströsen der Gegenwart. Das Gegenwärtige verkomme – wie auch der Politologe Alex Demirović (2016) jüngst schrieb – zu einer Art Übergangsphase, die nie ganz so ernst, nie ganz so wichtig sei. Nichts, das hier und jetzt und sofort verändert werden müsste.

So berufen sich auch aktuelle Politiken häufig auf Versprechungen und Aussichten für die Zukunft – kaum ein Politiker, der nicht die „zukünftigen Generationen“ adressiert, „die Zukunft unseres Landes“ oder „unseres Volkes“. Es gibt aber, folgt man Demirovic, keine ‚Erlösung’ für zukünftige Generationen. Weil es keine Erlösung von der Geschichte gibt. Alles, was jemals geschah, bleibt gegenwärtig. „Die Geschichte ist die Zeit der Gegenwart“, wie Demirovic schreibt. Das bedeutet nicht, dass sich nichts verändert.  Schon gar nicht handelt es sich um einen Aufruf zum Pessimismus, oder gar um eine Abkehr von Utopien. Vielmehr geht es um ein radikales Plädoyer für die Gegenwart.

Dazu müssen wir uns der Vergangenheit zuwenden, dem „Antlitz der Besiegten“ (Benjamin). Denn die Kraft der emanzipatorischen Praxis speist sich nicht aus der Erlösung künftiger Generationen, sondern aus der Wut über die Knechtung der Vorfahren. Die Fortschrittserzählung schneidet genau diese Kraft ab. Sie verbannt die Toten und trennt Unterdrückung, Verletzung und Leid von ihrer Geschichte, so dass diese in der Gegenwart nur noch als individuelles Scheitern und Versagen wahrgenommen werden. Daraus erwächst kein widerständiges Denken und Handeln, Vorstellungen von der Freiheit verkümmern oder gehen über in die Produktion von Reichtum, Change-Management, Work-Life-Balance-Optimierung oder Positive Psychologie.

Benjamin war der Überzeugung, man müsse den Wind der Weltgeschichte ohne Erlösungspathos in die Segel lassen. Das heisst Utopien entwerfen, die nicht erlösen, sondern „Sprünge ermöglichen“ – in den „Rissen und Brüchen der Gegenwart“, und mit den Splittern der Vergangenheit. Er plädierte dafür, die Gegenwart zu dem Ort zu machen, an dem wir handeln, das System kritisieren, Utopien umsetzen. Denn die „Jetztzeit“ ist die wichtigste und wertvollste Zeit, die wir haben. Wir brauchen Utopien, die Fortschrittssehnsüchte, Prophetismus, Glück und Souveränität-Phantasmen dekonstruieren, weil diese die Emanzipation von innen heraus pervertieren. Und Emanzipation immerzu vertagen. Es gilt deshalb, die Gegenwart in Augenblicke emanzipatorischer Praxis zu verwandeln, in denen ‚Erlösung’ nicht in eine ferne Zukunft verlegt wird, sondern in jedem Augenblick stattfinden kann.

Auch feministische Denkerinnen haben viel zu sagen zum Thema Utopien, die „Sprünge in der Gegenwart“ ermöglichen. Heidrun Erhardt (1995) kritisiert an klassischen Utopien, diese würden zwar „Menschen in Bewegung bringen”, diese aber „auf einen Endzustand hin orientieren”, auf eine Gesellschaft, „die fertig, perfekt, nicht mehr veränderbar ist, in der sich nichts mehr bewegt”. Sie richtet sich gegen den Endpunkt,  gegen die Idee eines Ziels. Vielmehr begreift sie feministische Ungeduld, das Nicht-Erwarten-Können einer postpatriarchalen, gewaltfreien Gesellschaft, die Sehnsucht selbst als eine wesentliche Dynamik des Utopischen: „Unser Bestreben ist es, die Bewegung hin zur Utopie in die Utopie selbst aufzunehmen”, die Utopie „in unserem heutigen Leben bereits aufzuspüren”, sie „beweglich” zu halten, schreibt Erhardt. Kurzum: Frauen*projekte, Aktivismus, Ent-Unterwerfung, die Entscheidung, sich auf andere Frauen* zu beziehen – all das findet hier und jetzt bereits statt.

Auch Thürmer-Rohr verteidigt die Gegenwart als den Ort, an dem wir tatsächlich ankommen, leben und Widerstand leisten müssen. Das geht nur, wenn wir radikal unversöhnlich bleiben: „Der verlässlichste Widerstand stammt aus der Fähigkeit zu leben – unversöhnt mit den Zurichtungen an uns und unversöhnbar mit unserer Mittäterschaft.“ Ein Widerstand, der nicht Erlösung verspricht, sondern die eigenen blinden Flecken aufspürt. Der nicht unbedingt positive Bilder produziert, sondern eine Bresche für die Gegenwart schlägt. Utopien haben Kraft, wenn sie die Toten nicht verdrängen und in sich selbst unbehaglich bleiben.

 

(Der Titel dieses Blog-Post ist dem Text „Der Tigersprung. Überlegungen zur Verteidigung der Gegenwart“ von Alex Demirovic in der Prokla (2016) entliehen, der mich zu diesem Blogpost inspiriert hat)

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