Notizen über Bulimie

Der Versuch, weniger zu werden und auszusehen wie ein Model, hat mir einen Teil meines Lebens genommen. Über meine Erfahrungen mit Esstörungen.

(Der folgende Text erschien zuerst im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Ich stelle ihn hier in  einer leicht unterschiedlichen Fassung auf meinen Blog)

kali
Hindu-Göttin Kali, Zerstörung und Erneuerung

Es gibt diese wunderbare Szene im Film Little Miss Sunshine: Die siebenjährige, leicht pummelige Olive will zum Girls-Schönheitswettbewerb fahren. Die Familie sitzt im Restaurant und frühstückt. Olive bestellt sich Waffeln mit Eiscreme. Der Vater redet auf das Mädchen ein und will es davon abbringen. Für den Wettbewerb will es doch sicher schlank sein! Daraufhin interveniert die Mutter auf eine so kluge und liebevolle Art, dass man weinen möchte, weist ihren Mann zurecht und erklärt Olive, dass es wirklich völlig egal sei, ob man dick oder dünn ist. Am Ende isst Olive ihr Eis. Es gibt vermutlich kaum eine Frau, die sich in diesem Moment nicht wünscht, so eine Mutter zu haben. Oder die sich wünscht, in einer Gesellschaft zu leben, in der Mädchen und Frauen, so wie sie sind, okay sind.

Bei meiner Abreise nach Nepal war ich zehn Kilogramm unter meinem Normalgewicht. Ich war 19 Jahre alt und wollte mit meinem damaligen Freund ein Jahr lang durch Asien reisen. In meinem Schlankheitswahn hoffte ich, während des geplanten Treckings noch mehr abzunehmen. Mein „Traumgewicht“, wenn ich mich richtig erinnere: 48 Kilo, bei 1,73 Metern Körpergröße. Ich habe kaum Erinnerungen an den Himalaja. Alles ist schemenhaft, irreal, ich habe nichts wirklich erlebt – außer meinen Hungerwahn. Mein Tag bestand aus Menüplänen und Kalorienzählen. Ich aß so wenig, dass ich nachts von Hefegebäck und Schweinebraten träumte und tagsüber während meiner mageren „Plain-Rice“-Portion schon an die nächste dachte. Auf unserem Treck waren wir täglich acht Stunden unterwegs. Tagsüber war es sonnig, nachts schlug es um in eine Kälte weit unter null. Ich fror die Nächte durch, aß immer weniger. Und wurde immer dünner. Die Heißhungerträume kamen jede Nacht, die Fantasien von Essensbergen bestimmten nach und nach meine Existenz.

Der Hunger und der Verzicht entfachten eine derart große Gier, dass ich bald heimliche Essanfälle hatte. Aus meinem Abnehmzwang wurde im Lauf der Reise eine Bulimie – die sogenannte Ess-Brech-Sucht (das Wort Bulimie kommt von dem altgriechischen Begriff für „Ochsenhunger“). Zurück aus Asien, verschlang ich manchmal 10 000 Kalorien auf einmal. Das sind etwa acht Burger, fünf Portionen Pommes und zwei Liter Cola. Und ein Liter Vanilleeis. Als ob die ganze Welt in meinen Magen passen könnte. Oder in die Kloschüssel. Mit meiner späteren Zimmernachbarin in der Klinik für Essstörungen habe ich mal ausgerechnet, wie viele hungernde Kinder wir hätten retten können.

Seither ist viel Zeit vergangen. Ich bin heute – falls man so etwas jemals mit Sicherheit sagen kann – geheilt. Wenn ich zurückdenke, sind die Bulimie-Jahre sicher das Beschämendste, auch das Traurigste, was ich erfahren habe. Der Versuch, weniger zu werden und auszusehen wie ein Model, hat mir einen Teil meines Lebens genommen. Während der täglichen Ess-Brech-Anfälle verlor ich auf entwürdigende Weise die Kontrolle über mich selbst. Der Selbsthass, den ich deshalb aufbaute, war bodenlos. Bulimie war für mich – rückblickend – eine widersprüchliche Erfahrung von Fanatismus und Scheitern. Ich hing fanatisch einem Körperideal nach, gleichzeitig hatte ich genau darüber oft keine Hoheit.

Auf den ersten Blick war ich vollständig auf den Körper fixiert. Ich idealisierte einen schlanken bis mageren, perfekt durchtrainierten, möglichst fettfreien Körper, mein Denken drehte sich fast ausschließlich um äußere Schönheit. Wobei das Spektrum der Schönheit immer enger wurde. Ich hing in einer tyrannischen Warteschleife und wartete darauf, endlich schlank genug zu sein, damit das Leben losgehen könnte. Aber eine Frau ist niemals schlank genug, denn es gibt – wenn man sich Idealen verschreibt – nur Scheitern. Und dann ist das Leben plötzlich vorbei, bevor es losging.

Wir wissen heute, dass die psychische Lage von betroffenen Frauen – neunzig Prozent der Erkrankten sind Frauen, jede vierte Frau hat im Laufe ihres Lebens mit Essstörungen zu tun – komplexer ist als das Streben nach einem perfekten Körper. Eleanor Marx, die magersüchtige Tochter von Karl Marx, schrieb 1882: „Was weder Papa noch die Ärzte noch sonst jemand verstehen will, ist, dass ich hauptsächlich seelischen Kummer habe … Sie können und wollen nicht sehen, dass seelische Bedrängnis genauso eine Krankheit ist wie körperliche Beschwerden.“ Solche seelischen Bedrängnisse sind manchmal Realtraumata – zum Beispiel weisen viele Patientinnen eine Missbrauchsgeschichte auf. In der bulimischen Symptomatik drückt sich dann gewissermaßen die Unverdaubarkeit solcher Erfahrungen aus.

Andere Gründe für den „seelischen Kummer“ hinter Essstörungen sind die gesellschaftlichen Ansprüche an Weiblichkeit sowie die Schwierigkeit, ein selbstbestimmtes Subjekt zu werden. Frauen kämpfen in der westlichen Gesellschaft häufig mit dem Umstand, dass sie ihre Körper nicht durch sich selbst, sondern vor allem durch den Blick anderer wahrnehmen und beurteilen. Die US-Philosophin Sandra Bartky schreibt: „A woman lives her body as seen by another, by an anonymous patriarchal other.“ Weiblichkeit ist nicht etwas, was Frauen selbst definieren, sondern sie wird durch eine männerdominierte Ordnung bestimmt. In dieser Ordnung ist der Träger des Blicks männlich, und die Erträgerin dieses Blicks ist die Frau. Männer sehen, Frauen werden gesehen. Diese Reduzierung der Frauen auf ihre Körper wird durch ein ganzes System von Überzeugungen und Bildern gestützt. Zum Beispiel durch die Werbung, die Frauen immer wieder als Dekomaterial verwendet.

Frauen sind da, um zu gefallen. Sie werden in eine passive Rolle gepresst und dadurch permanent entmachtet. Feministische Ansätze plädieren dafür, diese Dimensionen von Macht zu berücksichtigen, um Essstörungen besser zu verstehen. Die Philosophin und Frauenforscherin Silvia Federici zum Beispiel untersucht die Verbindung zwischen der Objektivierung von Frauen und Kapitalismus: Frauen wird ihr Körper im Kapitalismus quasi weggenommen, er wird zum öffentlichen Objekt, weil dadurch Gebärfähigkeit und Sexualität kontrollierbar werden. Anders ausgedrückt: Frauen werden auf einen Objektstatus reduziert, damit sie nicht aufmucken und auch weiter gratis neue Arbeitskräfte, Konsumenten und Soldaten gebären, Kinder betreuen, Alte und Kranke pflegen und den Haushalt schmeißen. In einer solchen Gesellschaft sind Essstörungen vermutlich eine Bewältigungsstrategie.

Essstörungen sind nicht nur eine Reaktion auf die ambivalenten Erwartungen an Weiblichkeit, die irgendwo zwischen Heiliger und Hure pendeln, eine Reaktion also auf „ein patriarchal definiertes Frauenbild, eine sexistische Kultur und eine perfektionistische Frauenrolle“, wie die Erziehungswissenschaftlerin Ingeborg Stahr schreibt. Sondern sie sind auch eine Rebellion gegen jene (kapitalistische) Aneignung des weiblichen Körpers. Essstörungen können als eine Suche nach Identität und als Rückeroberung des Körpers verstanden werden.

Dabei ist die Explosion des Körperkultes seit den Achtzigerjahren interessant: Ironischerweise trat eine verstärkte Fokussierung auf das Äußere gerade zu einem Zeitpunkt auf, als Frauen sich in manchen Bereichen zunehmend emanzipierten, wie die Psychoanalytikerin Susie Orbach konstatiert. Seit den Achtzigern erhielten Frauen mehr Rechte und mehr Platz im öffentlichen Leben und auf dem Arbeitsmarkt, zugleich verschärfte sich die Erwartung, einem bestimmten Schönheitsideal zu entsprechen. Den Machtzuwachs in einem Bereich (Arbeit) bezahlten Frauen mit Unterwerfung in einem anderen (Schönheit). Frauen dürfen jetzt arbeiten, dafür müssen sie ihre Körper feilbieten und passfähig machen. Seit den Achtzigern ist die Zahl der Mädchen und Frauen mit Essstörungen kontinuierlich gestiegen.

Orbach vertritt in ihrem vielbeachteten Anti-Diät-Buch die Meinung, dass Frauen Essstörungen nicht bloß passiv erleiden. Handlungen, die selbstzerstörerisch zu sein scheinen, sind auch ein aktiver Versuch, mit der Welt klarzukommen. Frauen sind handelnde Subjekte und Krankheiten nicht einfach die Summe von Defiziten, sondern Bewältigungsformen. Hungern und Ess-Brech-Sucht sind also nicht einfach weiblicher Gehorsam gegenüber einer männlichen Ordnung. Sie können auch Selbstbehauptung und Überlebensstrategie sein.

So paradox es klingt: Vielleicht überleben manche Frauen, gerade weil sie Essstörungen haben. In einer Dokumentation über anorektische und bulimische Frauen erzählt eine Betroffene, sie halte ihre eigene Minderwertigkeit nur durch Hungern, Essen und Erbrechen, durch das Zufügen von Schmerzen aus. Die eigene Minderwertigkeit besteht für sie darin, dass sie bestimmte Ideale der Schlankheit, Schönheit und Leistung nicht erfüllt. Der Exzess helfe ihr, den inneren und äußeren Druck und das Gefühl des Scheiterns auszuhalten, nicht die zu sein, die sie sein sollte. Es wird klar, dass sie Hunger und Schmerz als Selbstbestrafung für die mangelnde Grandiosität praktiziert, eine Malträtur, die ihr auf tragische Weise Genugtuung, sogar Triumph ermöglicht. Wenn sie schon kein wertvolles Subjekt ist, so bestimmt sie doch wenigstens selbst, sich Schmerzen zuzufügen.

In Nepal und Indien bin ich immer wieder der Hindu-Göttin Kali begegnet. Kali mit ihrem weit aufgerissenen Mund ist eine meiner wenigen Erinnerungen, ich hatte bei ihrem Anblick immer das Gefühl, sie hätte irgendetwas mit mir zu tun. Viel später erst habe ich recherchiert: Kali ist die Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung. Auf den meisten Darstellungen hat sie aufgerissene Augen, eine riesige gierige Zunge oder einen gigantischen Mund, der alles zu verschlingen droht. Vielleicht war sie ja die erste Bulimikerin der Menschheitsgeschichte. Kali steht für „Kala“, die Zeit. Zeit vernichtet und verschlingt, Zeit löst alles auf. In der vedischen Religion wird Kali mit Agni, dem Gott des Feuers, in Verbindung gebracht. Agni hat sieben flackernde Zungen, die Opfergaben verschlingen. Von diesen sieben Zungen verkörpert Kali die fürchterlichste. Kali – so steht es in den Veden – macht den Weg frei und löst die Welt am Ende der Zeitalter auf.

Ungefähr so fühlte ich mich nach meinen Ess-Brech- Eskapaden. Aufgelöst und am Ende, aber auch befreit. Es gab einen Aspekt der aggressiven Begierde und Erleichterung, durch die ich mich – wenn auch selbstzerstörerisch – spürte, durch die ich den Druck meiner tyrannisierten Existenz abbaute. Ich füllte mir den Bauch bis zur Schmerzgrenze, der Zucker und das Fett flossen in meinen Körper. Ich sah aus wie eine Schwangere, es war ein Akt der Ausdehnung und Selbstbehauptung. Die Sehnsucht, in Dünnheit aufzugehen, weniger zu werden, zu verschwinden wurde kontrastiert von einer, wenn auch schmerzhaften, Wahrnehmung des eigenen Körpers. Ich war da, und stopfte und gierte nach mehr. Ein maßloses Weib, zerstörerisch und kaliesk.

Obwohl die Bulimie mir viele Jahre geraubt hat, kann ich es jetzt manchmal auch so sehen: In diesem ganzen selbstzerstörerischen Scheitern konnte ich einen kleinen Rest Ich erfahren. Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung, warum jemand bulimisch wird. Bei mir hatte es viel mit dem Phänomen zu tun, das Alice Miller das „Drama des begabten Kindes“ nennt. Die Psychoanalytikerin beschreibt in ihrem gleichnamigen Buch Eltern, die ihre geheime Selbstverachtung und ihre Angst vor Kleinheit kompensieren, indem sie das Kind als grandios stilisieren. So eine Art Vorzeigekind war ich, und ich entwickelte ein „falsches Selbst“ (Miller), eines, das die unbewussten Erwartungen des Umfeldes zu seiner eigenen Substanz machte.

In mir lebte die Vorstellung, unglaublich potent zu sein, aber ich fühlte es nicht. Die Grandiosität war mir aufgesetzt worden. Im Versuch, sie mir einzuverleiben, begann ich mir Wunderdinge über mich auszudenken, verliebte mich in ein Traumbild meiner Selbst, in eine Art Hyperpotenz. Dahinter lauerte aber der Abgrund des Nichts, die Angst vor der Minderwertigkeit. Diese Angst traf schließlich auf jene für junge Frauen über alle Kanäle verkündete Option, sie mit einem schlanken Körper wettzumachen. Im Nachhinein fällt mir auf, dass meine Suche nach Potenz auf widersprüchliche Weise mit einer Verkleinerung, mit Abmagerung einherging. Ich wollte jemand sein. Und verschwand.

Wie die US-Historikerin Gerda Lerner schreibt, gibt es ein historisches Muster, gemäß dem viele Frauen ihr Bedürfnis nach Größe und Anerkennung im selben Atemzug beschneiden, weil sich ein solches Streben für Frauen nicht ziemt. Weibliche Potenz wird oft als Eitelkeit diskreditiert. Die Essstörung war ein Mittel, mit dem ich meine Ambitionen bestrafte. Insgesamt wurde ich nie richtig mager, ich galt all die Jahre noch als schön und sah gesund aus. Vielleicht machte sich deshalb niemand wirklich Sorgen. Meine Eltern sprechen noch heute von „Bulemie“ statt von Bulimie. Sie beschäftigten sich schlicht nicht damit.

Bulimikerinnen sind oft nicht so besorgniserregend dünn, weil sie immer wieder viel essen und trotz des Erbrechens etwas drinnen bleibt. Bulimikerinnen gestehen sich im Prinzip auch nicht zu, krank und bedürftig zu sein. Sie scheinen oft stark und selbstbewusst. Man kann mit dieser Krankheit Jahrzehnte unbemerkt über die Runden kommen – natürlich kann es dennoch schwere körperliche Schäden geben. Während meiner späteren Klinikaufenthalte habe ich den Unterschied zu magersüchtigen Frauen stark erlebt. Auch wenn viele an einer Mischung aus Bulimie und Magersucht litten, habe ich doch bei den eher anorektischen Frauen jene offen zu Tage tretende Todessehnsucht, ihr fundamentales Verschwinden beobachtet. Die Bulimie hat mein Leben nachhaltig und unwiderruflich beeinflusst, aber es war kein „Selbstmord auf Raten“, wie es oft über die Anorexie heißt.

Eines der Mädchen – ihr Körper sah aus wie der einer schwerkranken Zehnjährigen – sprach es damals in der Gruppentherapie laut aus: Sie wolle sterben. Sie saß angelehnt an der Wand auf dem Boden. Die mageren Hände im Schoß gefaltet, ein Wesen aus Haut und Knochen, die Augen tief im Schädel. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich wollte nämlich ganz und gar nicht sterben. Daran hatte ich im Leben nicht gedacht. Yvonne – ich gebe ihr hier diesen Namen – formulierte diesen Satz so tieftraurig und ernst, dass es vollkommen still wurde in dem pastellfarbenen Therapieraum. Yvonne ließ ihren Körper verhungern. Sie entledigte sich ihres Fleisches, streifte es ab. Das ist doch keine Frau mehr, dachten wir. Und vielleicht ist das gerade der Punkt. Vielleicht wollte sie auch keine sein. Jedenfalls nicht so, wie es von ihr erwartet wurde. Sie entzog sich dem vorherrschenden Schönheitsideal radikal.

Die Kulturtheoretikerin Christina von Braun schreibt über Anorexie: „Die Anorektikerin erscheint als das Ideal der ’schlanken‘ Frau. Sie versucht, die Anforderungen zu erfüllen – und demonstriert zugleich den Untergang der Frau, das Verschwinden des Sexualwesens.“ Die Brüste verschwinden, die Kurven, die Fertilität. Eine Totalverweigerung sämtlicher Weiblichkeitsideale. Die Anorektikerin entzieht sich auf grausame Weise. Dafür bekommt sie etwas: die Überlegenheit des Geistes über den Körper, einen Sieg über dessen profane Bedürfnisse. Sie erschafft ein Ich, das sich über die Idealisierung durch andere erhebt. Sie sagt: Nein. Ich werde diesen Joghurt nicht essen. Die Anorektikerin bemächtigt sich ihres Körpers, indem sie ihn verhungern lässt. Sie lebt, indem sie stirbt. Der Körper ist nicht länger ein leeres Gefäß, in das die Welt ihre Ideale gießt, sondern sie selbst konzipiert ihn nach ihren eigenen Vorstellungen. Mara Palazzoli beschreibt Anorexie als Existenzform der „Unfleischlichkeit“ und meint damit eine Ablehnung der Existenz im Körperlichen. Das Körper-Sein ist für die Anorektikerin das, was sie nicht annehmen will, denn es fühlt sich an, wie ein Ding zu sein, ein Objekt. Die anorektische Entmaterialisierung ist eine Auflehnung gegen diese Verdinglichung, eine Sehnsucht nach Frausein als Subjekt.

Yvonne starb ein Jahr später. Ohne Körper kann niemand leben. Ich werde immer wieder gefragt, wie es zu meiner Heilung kam. So genau weiß ich das nicht. Es geschah irgendwie, im Verlauf der Jahre. Ich bin herausgewachsen. Übriggeblieben ist eine trotzige Weigerung, mich mit Essen zu beschäftigen. Mein Freundeskreis kennt das schon: Längere Gespräche über Essen, Kochen und gesunde Ernaährung nerven mich. Ich denke: Ich habe zehn Jahre zwanghaft an Essen gedacht. Ich tue das nie wieder. Es ist mir vollkommen egal, ob ein Käse hundert Jahre in der Provence weingelagert wurde. Ich genieße Essen, groß darüber reden und nachdenken will ich nicht. Denn ich will nicht noch Zeit damit verschwenden.

Ich bin heute Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Manchmal denke ich drüber nach, in was für einer Welt sie gross werden. Die Schönheitsideale sind ja allgegenwärtig, auch für Jungs. Mir ist klar, dass ich das nicht kontrollieren kann, dass ich die Kinder nicht in jeglicher Hinsicht schützen kann. Ich versuche, offen über Körpernormen zu sprechen, gerade deshalb finde ich es praktisch, Barbies zu haben. Sie sind sehr geeignet, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen über unrealistische Körpervorstellungen. Sowieso gibt es bei uns zu Hause eigentlich fast alles, ich verbiete keine Spielsachen. Aber ich sage klar meine Meinung, was mir gefällt, was nicht, und warum nicht. Dann gibt es manchmal Streit oder Enttäuschung, aber ich versuche, meine Tochter darin zu bestärken, ihre eigene Meinung zu haben – auch entgegen der meinigen. Denn ich glaube, dass vor allem ein tiefes und echtes Selbstbewusstsein sie davor bewahren wird, später wie das Barbie aussehen zu wollen. Wenn sie also auf dünne Barbies steht, anerkenne ich das. Ich sage: Ich finde es zu dünn, aber ich kann verstehen, dass es dir gefällt.

Susie Orbach, die Spezialistin für Essstörungen, meinte in einem Interview, sie würde ihre Tochter nicht anders erziehen als andere Mütter. Das einzige, worauf sie tatsächlich penibel achte sei, vor ihrer Tochter nicht schlecht über ihren eigenen Körper oder sich selbst zu spreche. Auch sämtlichen Betreuungspersonen, Babysitterinnen und Grossmüttern lege sie nahe, vor dem Mädchen nicht abwertend über ihre Körper zu sprechen.

Ich mache das auch so, ich spreche sowohl über meinen eigenen als auch den Körper meiner Kinder wertschätzend. Manchmal stehe ich mit meiner Tochter im Bad vor dem Spiegel und wir zählen auf, was wir alles an unseren Körpern mögen.

Während solcher Körperexpeditionen fällt mir dann auch auf, dass mich die Vorstellung, plötzlich stark zuzunehmen, bis heute ein wenig nervös macht. Auch meine Tochter werde ich vor solchen Ängsten wohl nicht gänzlich bewahren können.

 

9 Kommentare

  1. tikerscherk sagt:

    Ein guter Text. Danke.

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  2. Katharina Tarelli sagt:

    Liebe Franziska. Dein Bericht ist berührend und lehrreich. Danke Dir von Herzen.
    Ich litt nie an Magersucht oder Bulimie, aber zurückblickend an Essstörungen. Erst litt ich unter zu dünn, wollte aber nie wie ein Modell aussehen sondern wie Brigitte Bardot oder Sophia Loren. Erst nach dem 3. Kind mit fast 40 nahm ich leicht zu. Als ich kurz nach der Geburt in Jeans Gr. 38 schlüpfte (bei Größe 1.77) sagte Antonio: Du hast aber zugenommen! Dann ab 50 Jahre nahm ich rasend schnell 20 Kilo zu. Meine Jugendidole hatten weiterhin grossen Busen und schmale Hüften, ich das Gegenteil. Aber es half alles nichts, ich musste da durch und weiter repräsentieren als Frau eines Diplomaten. Als mein Mann pensioniert wurde, sagte ich: ab heute trage ich Kleider in denen ich mich wohl fühle und was mir gut tut. Half schon etwas für’s Selbstbewusstsein. Jedoch erst jetzt zutiefst glücklich selbstentscheidend selbstbestimmend über mein gewählten Weg meiner letzten Lebensjahren (bald 74) nehme ich ganz natürlich wieder ab und esse einfach lustvoll gesund natürlich und kümmere mich um keine Ratschläge mehr.

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  3. Labyrinthus sagt:

    Schöner,differenzierter Text. Danke!
    Ich finde deinen Gedanken, dass Krankheit nicht (nur) etwas passiv-erlittenes ist, sondern auch eine,manchmal auch:die einzige Möglichkeit ist, sich zur Wehr zu setzen, spannend. Dass weiblich sozialisierten Körpern in Belastungssituationen häufig nur dieses Feld, um Protest,Lebenswillen, Widerspruch auszudrücken, bleibt, ist eine sehr respektvolle und hilfreiche Perspektive.

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  4. Senata Wagner sagt:

    Dein Text ist grandios!
    Falls du Zeit und Musse haben solltest einen Text zum Körperbewusstsein unter Männern zu schreiben, wäre das toll. Vieles, was du in diesem Text skizziert hast, trifft (zumindest in einigen Regionen der Welt) auch auf Männer zu: Deren Körper werden ebenso durch eine männerdominierte, hegemoniale Ordnung bestimmt. Die Körper werden in Werbungen ebenfalls zur Schau gestellt (wenn auch deutlich aktiver als Frauenkörper). Sportsucht, kombiniert mit strikten Ernährungsvorschriften erzeugen ebenfalls Schmerzen. Der Körper wird spürbar, die Muskeln brennen, der Magen knurrt, die Essgelüste bleiben unbefriedigt, weil Zucker vom Speiseplan gestrichen ist. Stattdessen gibt es Eier en masse, Molke, Geflügel, Hüttenkäse und Protein-Shakes.
    Im Gegensatz zu jenen Essstörungen, von denen du in deinem Blog gesprochen hast (Anorexie, Bulimie) führt die hierzulande auffällige Form des körperzentrierten Handelns unter Männern gerade zur Ausdehnung des Körpers. Die Muskulatur soll hervortreten, der Köper kantig, massig, raumeinnehmend, sichtbar sein. Ich verzichte an dieser Stelle auf eine psychologische Interpretation dieser Beobachtung.
    Jedenfalls fällt mir seit einigen Jahren auf (und regt mich stets aufs Neue zum Denken an), dass sich immer mehr Männer sehr intensiv mit ihrer äusseren Erscheinung beschäftigen und nach dem perfekten Körper streben. Nicht jenem eines Models, sondern jenem eines Spitzensportlers.

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  5. Nora sagt:

    Danke für den interessanten Einblick in die psychologische Situation der Betroffenen! Sehr gut gefallen hat mir auch Dein Hinweis auf die Erziehung der Kinder ist auch wirklich wertvoll, denn mit der gleichen Konstellation wie bei Dir (Sohn und Tochter) bin ich auch im Alltag an dem Thema dran.

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  6. p. sagt:

    Ich bin männlich und damit natürlich außerhalb hier. Aber doch finde ich mich in vielem hier wieder. Ich war als Kind dicker als die anderen Kinder. Aber das wusste ich nicht. Meine Eltern haben mir nie irgendetwas in diese Richtung vermittelt, also war es nichts, was mich besonders berührt hätte. Nein, das ist falsch. Ich wusste es nicht, also habe ich schlicht nicht daran gedacht, dieser Gedanke war komplett inexistent für mich. Bis ich dann in der vierten Klasse von einer Person hörte, dass ich ein „Fettsack“ sei. Und es ist krass, das so zu sagen, aber ab diesem Tag an, begann eine furchtbare Tragödie, die ich erst heute wirklich als solche erkennen kann, auch wenn ich noch immer nicht komplett los bin von diesen Gedanken. Der ständige Wahn, dünn genug zu sein, psychische Probleme auf das Gewicht abwälzen, Essen zur Beruhigung, Essen aus Selbstmitleid, Essen als Strafe, Nicht-Essen und Nicht-Essen, Wochenlang Fasten bis das Hungergefühl nicht mehr existiert. Und dann wieder zunehmen. Ich habe mein ganzes Leben damit ruiniert. Ich dachte ganz ernsthaft, dass ich als der Fettsack für den ich mich hielt, so nicht okay bin, so nicht geliebt werden kann, so keine Freunde, keine romantischen Beziehungen, nichts haben kann. Es ist egal, ob das rational ist oder nicht. Es sitzt so tief im Kopf, das nicht daran zu glauben, wirklich erzwungen ist, als würde ich eine Brille aufsetzen, die mir etwas anderes zeigt, aber die ganze Zeit weiß ich, dass es eben nur eine Brille ist, und dass ich sie abnehme und dann wieder sehe, dass ich nur dünn okay bin.

    Ich besessen von Männerbeinen, weil meine so dick sind. Besessen von Wangenknochen, weil man meine nicht sehen konnte und ich lächelte, wenn ich mich zu solchen runtergehungert hatte, nur um sie ein paar Wochen später nicht gut genug zu finden. Und so ist mein ganzes verdammtes Leben verlaufen. Jeder Tag drehte sich um Essen. Mir fiel vor ein paar Wochen erst richtig auf, dass dieses Verhältnis nicht schwinden wird. Zumindest wird es eine lange Zeit dauern. Mein Verhältnis mit Essen und meinem Körper in Kombination mit meiner Psyche ist einfach defekt, da sind hunderte Schrauben locker. Ich kann keine Pommes essen ohne mich den ganzen Abend dafür zu hassen. Ich kann nicht einfach etwas tun, ohne die ganze Zeit an Essen zu denken. Ich kann nicht jemanden kennen lernen ohne die ganze Zeit zu denken, dass sie mich dick findet, dass sie meine Beine zu dick findet, dass sie meinen Bauch lachhaft findet. Und egal wie viel Ego und Selbstbewusstsein ich mir antrainiert habe, diese verdammten Gedanken sind da und ich weiß nicht, wie ich sie loswerden soll.

    Und der beschissenste Aspekt an der ganzen Sache ist, dass ich wirklich anders behandelt werde, wenn ich dünn bin. Vielleicht bin ich dann selbstsicher und es liegt daran. Aber vielleicht ist es eben auch eine Gesellschaft, die mich nicht besonders okay findet, wenn ich zwanzig Kilo mehr wiege als es üblich ist. Ich könnte gerade einfach heulen.

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  7. A. sagt:

    Lieber P.
    Ich wünsche dir alle Kraft und vorallem Liebe für dich selbst! Ich hab keine Essstörung wie es diagnostiziert wird, aber auch ich (weiblich) kämpfe mit Schönheitsidealen. Für meine Psychischen Probleme habe ich eine 6 Jährige Traumaterapie gemacht und es hat mich komplett von innen her verändert.
    Ich wünsche dir von herzen alles alles Gute! A.

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